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Jochen Missfeldt: Solsbüll

Der vergessene Roman

Bücher haben ihre Zeit, auch wenn die Halbwertszeit, in der ihnen Aufmerksamkeit geschenkt wird, immer kürzer zu werden scheint. Aber es gab und es gibt auch immer wieder Bücher, die kommen zur falschen Zeit. Beachtung finden sie kaum bis gar nicht; der Gedanke, wie wirksam sie sind, waren oder hätten sein können, erübrigt sich. Ein Glück dann, wenn man ihnen irgendwann späterhin dann noch einmal Beachtung schenkt. Wie Solsbüll.

1989 war Jochen Missfeldts damals erster Roman erschienen, und zwar in dem kleinen Verlag Langewiesche-Brandt, der sich vor allem um zeitgenössische Lyrik, insbesondere um das Werk von Sarah Kirsch Verdienste erworben hatte. Mag sein, dass dieser Kleinverlag, bei dem Missfeldt zuvor schon einen Gedichtband und einen Band mit Erzählungen veröffentlicht hatte, vielleicht nicht der richtige Ort gewesen war, um einen solchen Roman auf dem Markt zu etablieren. Mag sein. Doch es scheint, als seien die Zeitumstände der wesentlich entscheidendere Faktor gewesen, der das Buch weithin unbeachtet ließ.

Die Entwicklungen der Jahre 1989 und und später boten nicht die Gelegenheit zur Rückschau. Es war die Zeit, in der Geschichtsbesoffenheit in Geschichtsverlorenheit überging, in der man gar annahm, das Ende der Geschichte zu erleben oder zumindest anbrechen zu sehen. Blühende Landschaften erschienen ohne Herkunft, man vermutete sie ernsthaft in der Zukunft. Es hatte etwas gespenstisch Faustisches: blind sah man neues Land. Außerdem lagen diese Landschaften im Osten. Sie waren vermeintlich weder historisch sedimentiert, noch vermutete man sie in Norddeutschland. Damit war Solsbüll das Leseinteresse weithin entzogen. 28 Jahre später – die Mauer, die zwei deutsche Staaten teilte, ist mittlerweile so lange weg wie sie da war – ist er wieder da, der Roman. Der Verlager Kristof Wachinger, der kürzlich seinen Verlag Langewiesche-Brandt an C.H.Beck verkauft hat und sich aus Altersgründen zur Ruhe setzt, hat in einem schönen Nachwort Auskunft darüber gegeben, wie der Roman schließlich bei Rowohlt landete und dort  in einer, vom Autor durchgesehenen Neuausgabe erscheinen konnte.

Wenn man betont, das sei ein Glück, so muss man zugleich erwähnen, dass es sich nicht von alleine einstellt. Man braucht einige Zeit bis in dem riesigen Figurenarsenal ein Erkennen von Zusammenhängen möglich wird, sich die Figuren dem Leser und der Leser den Figuren nähern können. „Wer ruft da“, so lautet gleich der zweite Satz von Solsbüll – und diese Frage beschäftigt den Leser doch über eine gewisse Strecke. Der Ich-Erzähler, der sich zu Beginn und am Ende sowie in sorgfältig eingestreuten Zwischenkapiteln zu erkennen gibt, macht es ihm nicht leicht, gerade weil er ihn teilhaben lässt an dem anfänglichen Stimmen- und Erinnerungswirrwarr, der sich einstellt.

Die Jahrhundertchronik

Solsbüll, der fiktive Ort an der Bahnlinie Kiel-Flensburg, entsteht in der Vorstellungswelt des Lesers langsam, entwickelt sich aber immer mehr zu einem Soziotop, an dem das 20. Jahrhundert Deutschlands in weiten Teilen sichtbar wird. Im Zentrum des Romans steht genau genommen ein Haus, das Hebammenhaus, in dem Anne Hasse und später als deren Nachfolgerin die Tochter Gret mit ihrer Familie oder dem, was davon übrig ist, leben und arbeiten. Die Geschichte der Familie Hasse erschließt sich jedoch mehr über die männliche Linie, und das über drei Generationen. Während die Frauen nicht zuletzt auch mit ihrem Beruf für die Kontinuität des Lebens stehen, sind es die Hasse-Männer, die als Opfer der Geschichtsläufte erscheinen, zumindest lange Zeit. Drei gibt es von ihnen – und alle drei heißen Gustav. Der erste Gustav fällt im 1. Weltkrieg bei Soissons und lässt Frau Anne als Kriegswitwe mit drei Kindern zurück. Der gemeinsame Sohn kommt im 2. Weltkrieg in Russland ums Leben, seine Ehefrau Bettina stirbt beim Bombenangriff auf Hamburg im Juli 1943. Deren Sohn wächstin Solsbüll bei Anne, der Großmutter, und seiner Tante Gret auf, die für ihn zur zentralen Bezugsperson wird.

Dieser letzte Gustav, Jahrgang 1941 und damit genauso alt wie sein Autor, wird den Teufelskreis der Kriegsopfer durchbrechen können, auch wenn er sich schließlich als Luftwaffenpilot geraume Zeit seines Lebens in virtuellen Kriegsszenarien bewegen wird (im übrigen: auch hier ebenfalls wie sein Autor). Er, Gustav, ist es auch, der die Jahrhundertchronik Solsbülls erzählt – als Ich-Erzähler, der sich, wie erwähnt in einigen Kapiteln kenntlich macht, ansonsten aber auf sich, den dritten Gustav, schaut mit Distanz wie auf andere Figuren auch.

Was die Geschichte der Hasses ihre besondere Bedeutung verleiht, ist deren Einbettung in die norddeutsche Landschaft und in das Figurenarsenal dieses Ortes. Wer, so heißt es einmal, in „Solsbüll hinter Busch und Buckel wohnt, der sieht nicht weit.“ Man muss ergänzen: er ist aber zugleich auch nicht durch „Busch und Buckel“ geschützt, weder vor den Folgen fehllaufender politischer Entwicklungen, noch vor der eigenen Borniertheit und dem rücksichtslosen Durchsetzen eigener Vorteile und Machtphantasien.

Aufstieg, Macht und Fall des Nationalsozialismus im Ort selbst zeigen das in den wohl eindringlichsten und den größten Anteil beanspruchenden Passagen des Romans. Sie rücken neben die Hasses auch die vielleicht interessanteste der vielen interessanten Nebenfigur in den Vordergrund, Dr. med. Otto von Meggersee junior. Er ist als Nachfolger seines Adoptivvaters gleichen Namens der ortsansässige Landarzt, der sich zum glühenden Nazi entwickelt. Doch bevor seine Parteikarriere so richtig in Gang kommt, wird öffentlich, dass er, das Adoptivkind, wohl jüdischer Abstammung ist. von Meggersee gelingt es nur mit Mühe, seine eigene Haut zu retten. Seine Distanzierung von der NS-Zeit nach dem Krieg bleibt, wie bei so vielen, halbherzig und fadenscheinig.

Viele andere der deutlich mehr als 150 Romanfiguren wären erwähnenswert. Hilfreich ist es, auf das im Anhang abgedruckte „Solsbüll-Verzeichnis“ der Figuren und Orte zurückzugreifen. Um den Überblick zu behalten, sollte man das nicht zu spät tun.

Reminiszenzen

Von großen Vorbildern ist die Rede, wenn, was allerdings selten geschieht, über Solsbüll gesprochen wird. Von William Faulkner, Siegfried Lenz und Günter Grass und ihren Prosaentwürfen von Landschaften und Leuten ist dabei die Rede. Diese großen Vergleiche sind nicht überzogen. Uwe Johnsons Beschäftigung mit den Cresspahls in mecklenburgischen Landstrichen wäre daneben zu nennen. Auch an dessen Sprache erinnert bisweilen Missfeldts Roman. Als Anne Hasse zeitweise mit dem örtlichen Pantoffelmacher Hanne Detleffsen anbandelt, heißt es über eine gemeinsame Kutschfahrt:

Es ging im Zuckeltrab über die Sollsbüller Au, es ging an den Wassermühlen vorbei und über den Wassserfall, wo das Wasser in ihr klopfendes Herz rein- und wieder rausrauschte.

Derlei Sätze sind zahlreich und könnten in ihrer Übergangslosigkeit zwischen Beschreibung, Gefühlsausdruck und idiomatischem Zuschnitt vom großen mecklenburger Vorläufer sein. Was hier aber konsequent ausgespart bleibt, ist die Öffnung zur weiteren Außenwelt. Wenn es nicht die Orte sind, wo Kriegshandlungen stattfinden, so sind es bestenfalls einmal Flensburg oder Kiel, die den Figuren für kurze Momente ins Blickfeld geraten. Hinter „Busch und Buckel“ gibt es kein New York, der Fokus bleibt immer auf Solsbüll.

So wird der Roman zu einer Jahrhundertgeschichte der norddeutschen Heimat im besten, also auch entkitschten Wortsinne. Vielleicht erreicht er in Zeiten, in denen unter den Ägiden einer wie auch immer verstandenen Globalisierung Heimat wieder zum Thema geworden ist, mehr Aufmerksamkeit als vor knapp 30 Jahren. Dann hätte auch Solsbüll seine Zeit gefunden. Es wäre wünschenswert.


Jochen Missfeldt: Solsbüll. Roman. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 2017 (22.- €)