Der Dichter denkt über das Chaos der Erfahrung nach, über die Konfusion des Zufalls, die unfassbaren Bereiche des Möglichen – womit nichts anderes gesagt ist, als dass er über die Welt nachdenkt, in der wir alle leben, die zu untersuchen sich aber nur wenige die Mühe machen. Früchte ihres Sinnierens sind die Entdeckung oder Erfindung eines bescheidenen Grundsatzes von Harmonie und Ordnung, der sich möglicherweise aus dem ihn verdeckenden Durcheinander herauslösen lässt, sowie die Einordnung dieser Entdeckung unter die poetischen Gesetze, die sie letztlich erst möglich machen.
Man könnte annehmen, es seien Worte eines Schriftstellers. Sie muten vielleicht etwas altmodisch an, denn die Überlegungen greifen doch auf den kaum noch üblichen Begriff des ‚Dichters‘ zurück, sprechen vom ‚Sinnieren‘ und suchen die Vereinbarung literarischer Beobachtungen mit „poetischen Gesetzen“. Nein, ein moderner, seine eigene Arbeit reflektierender Autor scheint hier offensichtlich nicht am Werk, aber trotzdem ein reflektiert Schreibender, einer, der gewohnt ist, in ästhetischen Bezügen zu denken.
Vielleicht der Autor des Romans selbst, John Williams? Wer seine beiden anderen mittlerweile auf Deutsch erschienenen Romane kennt, Stoner (dt. 2014) und Butcher’s Crossing (dt. 2015), der kommt vielleicht auf den Gedanken, hier gebe sich in einem Erzähler-Ich der Autor selbst zu erkennen. Denn die Sprache, die hier gesprochen wird, gehört durchaus zu Williams‘ Repertoire; etwas altmodisch daherkommend, aber dennoch unmissverständlich und erhellend. Wir sähen in der Textstelle dann so etwas wie die Poetologie des Romans in nuce.
Wer nun meint, ich würde solche Assoziationen mit einem entschiedenen „Irrtum“ beiseite schieben, den muss ich enttäuschen. Das „Chaos der Erfahrung“, die „Konfusion des Zufalls“ oder auch die Frage zu umkreisen, ob man einen Grundsatz „von Harmonie und Ordnung“ für sein Leben veranschlagen darf und kann, das sind die Themen, um die Williams‘ Romanwerk kreist. Das Vertrackte aber liegt in dem Umstand, dass die Worte keinem Schriftsteller in den Mund gelegt werden. Sie stammen aus der Feder von Augustus, dem ersten römischen Kaiser. Dadurch erhalten Sie einen ganz anderen Zungenschlag. Hier spricht eine Person der Weltgeschichte, ein zunächst politischer Mensch, einer, der wie nur wenige nach ihm die Welt so umgestaltet hat, dass sie bei seinem Tod eine ganz andere war als zu seinen jungen Jahren. Einer, dem die Nachgeborenen zubilligen, dass er die Welt dazu nicht vollkommen in Schutt und Asche gelegt hat, trotz allem.
Trotz allem?
Der, den man schließlich Augustus nennen sollte, ist, um seine Herrschaftsansprüche durchzusetzen, um die rund einhundert Jahre dauernde Staatskrise im römische Reich zu beenden und um das Weltreich zu konsolidieren, durch Blut gewatet. Mit politischem Geschick, gewiss, aber eben auch mit größter Skrupellosigkeit hat er Widersacher über die Klinge springen lassen. Die Zahl geht nicht in die Hunderte, sie geht in die Tausende. Wären seine Gegner, hätten sie sich behauptet, anders verfahren? Wohl kaum, aber die Frage ist müßig.
Wie dem auch sei. Die oben zitierten Worte verlieren ihre Unschuld. Sie weisen hinein in eine Welt der Poesie, aber sie tönen in einem Raum, in dem das Poetische zugleich durch die Macht der Wirklichkeit in Frage gestellt wird. Was Augustus am Ende seines Lebens, ja wenige Stunden vor seinem Tod sagt, kann die Schlacken der Macht, der Rücksichtslosigkeit, des Kalküls und der Gewalt nicht einfach ignorieren. Aber das weiß Augustus; er formuliert diesen Konflikt und seine Schuld im letzten Teil des Romans, der im Wesentlichen aus einem langen, sich über mehrere Tage hinziehenden Brief an einen alten Freund besteht.
Hier in diesem letzten Teil des Romans rückte mir die Figur so nah wie William Stoner oder William Andrews, die beiden Hauptfiguren der älteren Romane. Zuvor in den ersten beiden Teilen nahm ich diesen Augustus wahr wie ein Schemen hinter einer Milchglasscheibe. Aber das ist wohl intendiert und ein grundlegendes Konstruktionsprinzip des Romans. Die drei Bücher, in die er sich gliedert, konzentrieren sich jeweils auf zentrale Etappen und Ereignisse des politischen Lebens von Augustus. Das erste Buch umfasst die Zeit seines Aufstiegs und der Sicherung seiner stetig wachsenden Macht bis zur Vernichtung seines größten politischen Gegners Marcus Antonius. Das zweite Buch konzentriert sich auf die Zeit zwischen 23 v. Chr, und der Zeitenwende. Thematisiert wird in diesem Teil vor allem Augustus‘ Bemühen um das, was er selbst als „restitutio imperii“, also die Wiederherstellung und Gewährleistung der Reichsstabilität bezeichnet hat. Dabei spielt im Roman die Sicherung der Außengrenzen aber eine deutlich geringere Rolle als die Sicherung und Wahrung der Ordnung nach innen. Gemeint ist damit vor allem Augustus‘ Bemühen, die alten republikanischen Eliten zu stärken. Ein Instrument bildeten dabei die von ihm erlassenen Ehe- und Sittengesetze, die eine stark konservative Ausrichtung deutlich machen und in ihrer rigiden Umsetzung Opfer verlangten, und zwar bis in die eigene Familie hinein. Sein Verhältnis zu seiner Tochter Julia wird in diesem Zusammenhang zum Beispiel für die daraus resultierenden Konsequenzen. Das letzte Buch des Romans besteht schließlich aus dem schon erwähnten Brief des Augustus sowie einem kurzen autobiographischen Rückblick seines Leibarztes auf dessen letzte Tage.
Keine Sorge, WIlliams‘ Roman ist kein Geschichtsbuch, ist keine Biographie, es ist und bleibt ein literarischer Text. Auch wenn er sich an den historischen Überlieferungen orientiert, ist er doch in Gänze ein Produkt der literarischen Phantasie. Er arbeitet mit fiktiven Dokumenten, Briefen, Notizen, Fragmenten, die der Autor Familienmitgliedern, Weggefährten und Gegnern in den Mund legt. In den ersten beiden Büchern kommt Augustus selbst gar nicht zu Wort, von einem kurzen Zitat aus den „Res Gestae“, seinem sogenannten „Tatenbericht“ abgesehen, dem einzigen historisch authentischen Dokument im Roman. So sieht man als Leser Augustus immer nur von außen, aus der Distanz, als eine Gestalt, dessen Handlungen, Entscheidungen und Leistungen von anderen kommentiert und gedeutet werden, gedeutet immer vor dem Hintergrund der eigenen Belange und Interessen der jeweiligen Figur.
Mag sein, dass ich mich aus diesem Grund lange Zeit schwer tat, selbst einen Zugang zu der Titelfigur und zu dem Roman zu finden. Das änderte sich mit dem zweiten Buch, als Augustus‘ Tochter Julia zur zentralen Nebenfigur wird. Mit ihren autobiographischen Aufzeichnungen aus der Verbannung, die ihr Vater verfügt hatte, kommt man der Opferseite augusteischer Politik näher, Opfern, die Augustus eben auch in der eigenen Familie aus Gründen in Kauf nahm, die man heutzutage vielleicht als Staatsräson bezeichnen würde. An Julias Schicksal zeigen sich die Mechanismen staatlicher Macht, die von den Belangen des Einzelnen absieht, mag er auch noch so privilegiert sein. Wie Williams es versteht, die Entwicklung des Vater-Tochter- Verhältnisses nachzuzeichnen und die Familienbanden ebenso deutlich zu machen wie die politischen Zwänge, die sie gefährden und schließlich zerstören, zeugt von großer literarischer Kunst.
Um im dritten Buch einzumünden in Augustus‘ umfassende Apologie, die nicht umhin kann, sein persönliches Scheitern einzugestehen, mag die neue Staatsordnung des Prinzipats, die geschaffen wurde, auch noch so stabil erscheinen. Symptomatisch und tragisch zugleich erscheint schließlich der Umstand, dass Augustus den Brief an seinen Freund schreibt, als der gerade verstorben ist. Die letzten Kräfte, die er am Ende seiner Tage noch aufzubringen in der Lage ist, gehen ins Leere, erreichen niemanden mehr. Für den Leser aber tritt der sogenannte Erhabene, dieser Augustus, hinter der Milchglasscheibe hervor und gibt sich zu erkennen – als Mensch.
John WIlliams: Augustus. Roman. – München: dtv Verlagsgesellschaft 2016 (24,- €)
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