Josef K. lebt. Er wohnt in Stockholm und arbeitet in einer Behörde, irgendwo im vierten Stock eines offenschtlich tristen Verwaltungsgebäudes aus rotem Backstein. Er ist, wie man es von Josef K. erwartet, fleißig, sorgfältig, genau. Er hat, wer will es ihm verübeln, Aufstiegsambitionen. Er ist nicht gewillt, alles mit sich machen zu lassen, nein, er ist nicht Gregor Samsa. Er ist auch nicht Josef K.. Sein Name ist Björn.
Björn! Einen schwedischeren Vornamen als den kann man sich als Nichtschwede kaum vorstellen. Aber es geht hier nicht darum, einen Vetter des deutschen Michel zu charakterisieren, sondern einen Mann, der die Büroarbeit zu lieben scheint, der gestalten will, der sich deshalb nicht scheut anzuecken, und der, vielleicht genau deswegen, von seiner bisherigen Arbeitsstelle weggelobt, genau genommen entfernt wird. Aus Gründen, die im Dunkeln bleiben. Das System ist im Selbstreinigungsmodus und entsorgt, was stört.
So weit nach vier, fünf Seiten Lektüre. Und eigentlich hat man früh keine rechte Lust mehr weiterzulesen. Man ist geneigt abzuwinken. Kennen wir doch schon! Kafka! Siehe oben!
„Endlich würde ich mein volles Potential entfalten können.“
Aber dann wird es schnell erstaunlich, denn dieser Björn tritt mit einer Vermessenheit an seinem neuen Arbeitsplatz auf, die kaum zu überbieten ist. Man merkt nun, der Mann hat mehr als nur ein ausgeprägtes, übersteigertes Selbstbewusstsein, er hat eine massive Persönlichkeitsstörung, der ist gaga. Er bemerkt zwar, dass er in dieser Behörde zunächst nur zu nachrangigen, wenn nicht gar vollkommen überflüssige Arbeiten herangezogen wird, weil man offensichtlich überhaupt nicht weiß, was man mit ihm anfangen soll. Aber wie er seine Tätigkeit euphemistisch aufwertet, mit welcher scheinbaren Selbstverständlichkeit er sich anmaßt, Kollegen wegen irgendwelcher Bagatellen zurechtzuweisen, das ist mit einer wie auch immer ausgreifenden Selbstüberschätzung und Arroganz nicht zu erklären. Die Wahrnehmungen, die einem solchen Verhalten zugrunde liegen, entfalten ein Krankheitsbild.
Am meisten faziniert Björn ein Zimmer, das im Gang zwischen Aufzug und Personaltoilette gelegen ist. Dieses Zimmer ist unbenutzt und wird offenbar von niemandem aus der Behörde betreten, obwohl es als Büroraum voll ausgestattet ist. Dorthin zieht er sich sich mehrfach zurück, um Pause zu machen, sich zu entspannen und aufzutanken. Man gewinnt in der Tat den Eindruck, als werde das Zimmer für ihn zu einer Art Ladestation für Selbstbewusstsein.
Es gab einen Wandspiegel in dem Zimmer. Mein Blick fiel auf mich selbst und zu meinem Erstaunen fand ich, dass ich richtig gut aussah. […] Der Mann, der mir im Spiegel begegnete, hatte eine unerhört konzentrierte Art zu schauen.. Er nagelte mich mit seinen Pupillen fest und folgte mir, wohin ich mich auch bewegte. Ich erkannte sofort, dass das ein neuer Pluspunkt war, ein Augenpaar, das wirklich alles verlangen konnte. Und es bekam.
Was Björn bekommen will, bekommt er dann auch. Auf dem Betriebsfest, in diesem Zimmer, beim Stelldichein mit Margareta, der Dame vom Empfang. Es gibt die ganze Zeit nur ein Problem: dieses Zimmer existiert nicht. Björn ist der einzige, der dieses Zimmer wahrnimmt.
Was Jonas Karlsson aus diesem Umstand in seinem in Schweden schon 2009 erschienenen Debütroman macht, ist ein Kabinettstück an Absurdität, mit Momenten, in denen man schallend lacht, und solchen, in denen es einem gruselt. Denn nun, nachdem Margareta wohl den Kollegen geplaudert hat, ist für alle Gewissheit, dass Björn sie – Pardon! – nicht alle hat. Was passiert? Die Kolleginnen und Kollegen fühlen sich durch sein Verhalten verständlicherweise verunsichert. Sie beobachten einen Mann, der sich in dem Bereich zwischen Aufzug und Toilette in irritierender Weise verhält. Sie artikulieren ihre Verunsicherung, aber sie tun eben auch mehr: DIe Mehrheit will Björn weg haben und intrigiert gegen ihn in übler Weise. An dessen Hybris ändert das gar nichts; es verschärft nur die Situation. Hilflos agiert dabei der Abteilungsleiter Karl, der Björn zunächst wohlwollend gegenüber steht, ihn aber schließlich doch dazu zwingt, einen Arzt aufzusuchen. Ohne Ergebnis.
„Können wir uns auf die Formulierung einigen, ‚das Zimmer existiert nicht für alle‘?“.“
Damit ist die dramaturgische Schraube aber noch immer nicht überdreht. Björn gelingt es, unbemerkt Aufgaben an sich zu ziehen und Gutachten oder Ähnliches zu verfassen, die die Qualität dessen, was die Abteilung bisher abzuliefern in der Lage war, offensichtlich weit übertreffen und sie schließlich vor einer geplanten Auflösung bewahren. Zu welch haarsträubenden Ausgleichsversuchen in verfahrener Situation das führt, weil eine Inklusion des offensichtlich psychisch Kranken nun nützlich erscheint, macht Karls Vorschlag zur Güte deutlich. Ein Vorschlag, der – absurder Weise – aber nicht an seiner Absurdität scheitert, sondern an der Direktive von oben. Sie hat einen Showdown zur Folge, der nicht verraten werden soll. Nur so viel: Er erinnert dann doch wieder an Kafka, nämlich an den „Wunsch, Indianer zu werden“.
Jonas Karlsson: Das Zimmer. Roman. Aus dem Schwedischen von Paul Berf. – München: Luchterhand Literaturverlag 2016 (17,99 €)
Nachgelesenes
Marina Büttner hat den Roman auf ihrem Blog literaturleuchtet ebenfalls mit großer Zustimmung besprochen. Die Hörbuchfassung hat Chris Popp auf booknerds.de begeistert vorgestellt.