Kent Haruf, ohnehin lange Zeit außerhalb der USA nur ein literarischer Geheimtipp, gehörte auch dann noch zu jenen Autoren, die ich bestenfalls am Rande wahrnahm, nachdem er auch international zum anerkannten Schriftsteller und Bestseller geworden war. Was hatte ich mitbekommen? Ein US-amerikanischer Autor, kein umfangreiches Werk, seine Romane spielen alle in einer Kleinstadt irgendwo in einem der westlichen Staaten. Mehr war da nicht, kein Titel präsent, nur noch, dass er im deutschsprachigen Raum bei Diogenes verlegt wird. Ach ja, dass er wohl mittlerweile verstorben sei.
Jetzt den ersten, seinen eigentlich letzten, posthum erschienenen Roman Unsere Seelen bei Nacht gelesen zu haben, beruht im Grunde auf einem Missverständnis. Ich glaubte, meine Frau habe ihn mir drängend empfohlen, dabei hatte sie mir nur ihre Begeisterung mitteilen wollen. So war sie auch eher verwundert, als sie bemerkte, dass ich den Roman tatsächlich las. Begründung: „Für dich zu viel Gefühl.“ Über die impliziten Kategorien, mit denen ich meine Lektüreauswahl zu vermitteln scheine, werde ich wohl noch einmal nachdenken müssen. Ich las aber schon.
Ihr Eindruck ist trotzdem nicht abwegig. Hätte ich, da bin ich mir sicher, das Taschenbuch auf dem Auslagetisch oder im Regal einer Buchhandlung entdeckt, es in die Hand genommen und den Klappentext gelesen, so hätte ich es desinteressiert weggelegt.
Holt, eine Kleinstadt in Colorado. Eines Tages klingelt Addie, eine Witwe von 70 Jahren, bei ihrem Nachbarn Louis. Sie macht ihm einen ungewöhnlichen Vorschlag: Ob er nicht ab und zu bei ihr übernachten möchte. Louis lässt sich darauf ein. Und so liegen sie Nacht für Nacht nebeneinander und erzählen sich ihre Leben. Doch ihre Beziehung sorgt für Aufsehen in dem Städtchen.
Ein guter Text. Inhaltlich trifft er den Roman ziemlich genau, bleibt am Ende im Angedeuteten, um Leseinteresse zu wecken, verspricht aber nichts – das weiß ich jetzt -, was der Roman nicht einlöst. Was allerdings soll dabei herumkommen? Die doppelte Einsicht, das Leben sei im wechselseitigen Rückblick betrachtet nicht gelaufen wie erhofft oder erwartet? Die Entwicklung einer gewissen Widerständigkeit gegen das angesprochene „Aufsehen in dem Städtchen“? Die Einsicht, dass das Leben trotz allem gerade jetzt lebenswert sei und Sinn schaffe? Man ahnt geradezu das Klischee und fürchtet einen, in die Verhältnisse einer US-amerikanischen Kleinstadt eingebetteten Lebenskitsch, wie wir ihn ja nun aus den einschlägigen TV-Serien und Filmen kennen. Das fiktive Holt in Colorado quasi eine Nachbarstadt des ebenso fiktiven Stars Hollow in Connecticut? Nein, danke.
Aber, wie gesagt, ich las schon.
In der Tat, Unsere Seelen bei Nacht enthält genügend Zutaten, um zu einem Roman werden zu können, der von Klischees und von falschem Sentiment, also Kitsch, nur so überquillt. Da sind die verspießerten Senioren der Stadt, die die Freundschaft von Addie und Louis süffisant ablehnen, abschätzig kommentieren und zugleich voll stillem Neid beobachten. Wir erleben das schon fast prototypisch zu nennende Scheitern einer Ehe bei den Kindern des Paares. Es wird dem Leser in diesem Zusammenhang sogar ein Kindheitstrauma als Erklärungsmuster für Beziehungsunfähigkeit angeboten. Vorgestellt wird auch das verunsicherte Enkelkind, das in Verhaltensauffälligkeiten abzutrudeln droht, das aber durch die Hinzunahme eines Hundes emotional aufgefangen wird.
Dennoch – und darauf kann man nicht eindrücklich genug hinweisen! – gelingt es Kent Haruf, jedes Klischee zu unterlaufen, jeden Kitsch zu vermeiden, alles Schale und Fragwürdige von diesem Roman fernzuhalten. Gerade weil die Gefahr so groß erscheint, den banalen Plotmöglichkeiten zu erliegen, stellt sich beim Lesen sehr früh die Frage, wie es dem Autor in so beeindruckender Weise gelingt, dem nicht aufzusitzen. In ihrer Grundsätzlichkeit ist die Einsicht, es liege an der Erzählweise, nicht minder banal als die angesprochenen Plotgefahren. Schaut man genauer hin, ist es aber gar nicht mal so leicht, die erzählerische Gestaltung zu durchschauen. Im Detail wird mir manches entgangen sein, auf ein paar wenige Aspekte möchte ich aber hinweisen.
Ja doch, Unsere Seelen bei Nacht rückt zwei liebenswürdige, wenn nicht gar bewundernswerte alte Menschen in den Mittelpunkt. Ihre Schicksalsschläge haben sie ausgehalten, ihre Fehler und Fehlverhalten als Teil ihres Lebens angenommen, ohne sie zu entschuldigen, und sich lange Zeit in ihrem emotionalen Zuwenig eingerichtet bis sie zueinander finden. Kent Haruf erzählt deren Geschichte aus einer vorurteilsfreien Distanz, die ihnen ihre Haltung belässt, egal wie nah oder fern die Perspektive ist, die sich auf sie richtet. Dabei erweist sich der Autor als Meister des Timing im Wechsel der Erzählweisen. Seine bevorzugten Erzähltechniken sind der auktoriale Erzählerbericht und der Figurendialog; personale Erzählverfahren findet man selten. Damit aber gelingt es ihm nicht nur, den Leser nah an seine Figuren heranzuführen, sondern das zugleich ohne Wertungsansprüche zu tun. Überspitzt formuliert rücken die Leser in die Rolle der Beobachter, die die sich um die Protagonisten gruppierenden Figuren nicht in der Lage sind, einzunehmen, weil ihnen ihre eigene Sichtweise dazu im Wege steht.
Der Roman endet nicht, wie man es dem Paar wünschen würde. Wie, möchte ich hier nicht verraten, um jenen, die ihn noch lesen möchten, nicht die Spannung zu nehmen. Es ist aber nicht, wie man beim Alter von Addie und Louis ja durchaus annehmen könnte, der Tod, der zwischen sie greift. Es ist ein Ende, das ich zwar verstehe, aber nicht begreife. Es werden Entscheidungen getroffen, deren Notwendigkeiten mir nicht einleuchten. Nicht, dass sie erzählerisch nicht plausibel wären; das wäre ja nun eine nicht unerhebliche ästhetische Qualitätsanschränkung, die man dann formulieren müsste. Der Roman fällt dadurch überhaupt nicht ab, was man von der ansonsten so schönen Verfilmung mit Jane Fonda und Robert Redford gerade nicht behaupten kann. Die Verfilmung adaptiert den Roman sehr weitgehend, verändert ihn aber inhaltlich am Ende in einem entscheidenden Moment. Diese Änderung führt aber zu einem arg sentimentalen Schluss, den der Roman gerade nicht aufweist. Er ist da härter, schonungsloser und zugleich rätselhafter. Dieser Schluss macht es, dass man auch Tage und Wochen nach der Lektüre mit diesem wunderbaren Buch nicht fertig ist.
Kent Haruf: Unsere Seelen bei Nacht. Roman. Aus dem Amerikanischen von pociao. – Zürich: Diogenes Verlag 2017 (als detebe-Taschenbuch 2019).