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Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion

Verbürgt ist der Unfalltod Roland Barthes‘. Am 25. Februar 1980 war der Schriftsteller und Intellektuelle von einem Kleintransporter überfahren worden und starb einen Monat später an den Folgen seiner schweren Verletzungen. Fiktion ist die Annahme, er habe das Manuskript eines Textes zu einer siebten Sprachfunktion  dabei gehabt, das nun verschwunden ist. Roland Barthes sei, so der (ebenso fiktive) Augenzeuge Michel Foucault, nicht ein tragisches Unfallopfer, sondern wegen dieses Manuskripts ermordet worden.
Verbürgt ist der Bombenanschlag auf den Hauptbahnhof von Bologna am 2. August 1980. Fiktiv ist die suggestive Erzählkonstruktion, dieses Attentat stehe in einem direkten Zusammenhang mit dem verschwundenen Manuskript und den polizeilichen Ermittlungen um den mysteriösen Tod Roland Barthes‘.
Verbürgt ist auch, dass Louis Althusser im November 1980 seine Frau Hélène erdrosselte, fiktiv ist das ihm unterstellte Motiv, er sei durchgedreht, nachdem er im Gespräch mit seiner Frau erfahren habe, sie habe das Manuskript, das sich in seinem Besitz befand, über den Müll entsorgt.

Man könnte fortfahren und weitere historisch verbürgte Details und deren Fiktionalisierung sammeln und auflisten. Aber die drei Beispiele genügen, um ein wesentliches Erzählverfahren des Romans deutlich zu machen: Binet verbindet Faktisches mit Kontrafaktischem (was schon aufgrund des Umstands, dass das Erfundene dabei immer durchscheint, etwas anderes ist als „alternative Fakten“) und entwickelt aus diesem Konglomerat eine weithin unterhaltsame Story.

Barthes kam, so die Annahme, von einem Mittagessen mit dem Präsidentschaftskandidaten François Mitterand, der wohl Interesse an dessen Entdeckung der siebten Sprachfunktion hatte. Unter Weiterentwicklung eines Ansatzes des russischen Linguisten und Semiotikers Roman Jakobson habe Barthes eine weitere, performative Sprachfunktion entwickelt. Wende man sie an, so gelänge es, alle Menschen von der Richtigkeit der eigenen Argumente zu überzeugen. Welche Möglichkeiten sich damit für den politischen Diskurs eröffnen, welche Omnipotenz sich hinter dieser Sprachfunktion verbirgt, liegt auf der Hand.

So ist dann auch dem unmittelbaren Eingreifen des amtierenden Staatspräsidenten Valéry Giscard  d’Estaigne zu verdanken, dass der Fall überhaupt weiterverfolgt wird. Damit beauftragt wird Kriminalkommissar Bayard, ein schon etwas älterer, stockkonservativer Mann, der in einem Milieu ermitteln muss, das ihm selbst regelrecht zuwider ist. Ihm ist schnell klar, dass er die Lösung des Rätsels im Dunstkreis der französischen Poststrukturalisten suchen und dass er dazu die Hintergründe, mit denen diese Menschen sich beschäftigen, erst einmal verstehen muss; Hintergründe und Zusammenhänge, von denen er keinen blassen Schimmer hat und die ihm persönlich als vollkommen nutzlose intellektuelle Gedankenspiele erscheinen. Zu seiner Unterstützung zwangsverpflichtet er Simon Herzog, einen Doktoranden an einer ausgewiesen linken Universität, damals ein Hort des Poststukturalismus. Foucault, Deleuze, Guattari, Lyotard, Lacan und andere Säulenheilige haben dort – zumindest zeitweise – gelehrt. So findet sich hier ein vollkommen ungleiches Paar zusammen, das aber im Laufe des guten Jahres, über den sich die Handlung erstreckt, eine ja herzliche Freundschaft zueinander entwickelt.

Aber auch andere mysteriöse Mächte haben ihre Finger im Spiel und scheinen hinter dem verschollenen Manuskript her zu sein. Der bulgarische Geheimdienst mischt sich ein und scheut dabei auch nicht vor Mord zurück. Zwei merkwürdige Japaner tauchen immer wieder wie aus dem Nichts auf und geben der Handlung eine Wendung. Am Vergnüglichsten sind allerdings die Auftritte der nahezu gesamten poststrukturalistischen Sippschaft. Ja, hier im Roman erscheint sie in der Tat als Sippschaft in dem durchaus abfälligen Sinn, der sich hinter dem Begriff verbirgt. Binet fährt hier ein Panoptikum der Eitelkeiten, Gehässigkeiten, des Neids und der Intrigen auf, bei dem einige besonders schlecht, die allermeisten zumindest alles andere als gut wegkommen. An Leuten wie Philippe Sollers, dem Begründer der literaturkritischen Bewegung Tel Quel, an dessen Frau, der Psychoanalytikerin Julia Kristeva, an Bernard-Henry Lévy, dem Publizisten und Herausgeber der „Nouvelle Philosophie“, dessen einzige Leistung darin besteht, sich mit seinem Kürzel BHL eitel zu exponieren, und vor allem an Michel Foucault lässt Binet kein gutes Haar. In ihrer Eitelkeit, in ihrem neidvollen Schielen darauf, was der oder die jeweils andere macht, kommen sie einem vor wie ein etwas zu intellektuell geratener Kindergarten. Mit großem Humor, ja szenenweise mit skuriller Komik wird das erzählt, etwa wenn Bayard Foucault in einer Schwulensauna zum Fall befragt. Zugleich aber merkt man als Leser, wie die Charakterisierungen der literarischen Figuren, die sie ja sind, dazu führen, dass sich das Bild von den tatsächlichen Personen unter der Hand verändert.

Ausgenommen von diesen scharf-bösen Figurenskizzen ist eigentlich nur Umberto Eco, den Bayard und Herzog in Bologna aufsuchen, um mehr über die siebte Sprachfunktion zu erfahren. Er scheint eher als eine Art Präzeptor der Semiotik und entpuppt sich schließlich als der erste Mann einer Art Geheimloge, dem „Logos“-Club, in dem es um rhetorischen Wettstreit unter Intellektuellen geht, der aber durchaus bizarre Folgen haben kann. Bei der Niederlage bei einem solchen Wettstreit droht einem, wie man schließlich erfährt, nicht nur der Verlust eines Fingers.

Der Roman ist aber mehr als nur eine Kriminalgeschichte oder eine Philosophiesatire, sondern geht darüber hinaus. Man erfährt darin sehr viel über Poststrukturalismus, über Zeichentheorie, Rhetorik, über das Frankreich während des Präsidentschaftswechsels zu Beginn der 80er Jahre und über Tennis. Er ist in einem Umfang anspielungsreich, der sich den meisten der Leser (mich selbst eingeschlossen) sicherlich nur in Bruchteilen erschließt, und er hat Witz. Wenn gegen Ende des Romans zum Beispiel erwähnt wird, da gebe es einen jungen farbigen Anwalt in Chicago, der ein begnadeter Redner sei, wenn man den nun vertraut mache mit der siebten Sprachfunktion …, so bergen solche Passagen Momente größten Lesevergnügens.

Und dennoch! Binets Die siebte Sprachfunktion hat eine Reihe literarischer Vorbilder, Umberto Ecos frühe Romane Im Namen der Rose und Das Foucaultsche Pendel gehören erkennbar dazu. Vergleicht man ihn mit diesen Vorbildern, so erkennt man auch seine Schwächen. Die Qualität von Ecos Romanen besteht darin, dass man sie auf vielerlei Ebenen mit großem Vergnügen lesen kann, als Unterhaltungsliteratur, die spannende Kriminalfälle ausbreitet, als philosophische Traktate, in denen semiotische Probleme entfaltet werden, als gesellschaftskritische Analysen und mehr. Man wird immer seine Rezeptionsebene finden, insofern man sich nicht von vorneherein von dicken Romanen abschrecken lässt. Das gelingt Binet in vergleichbarem Maße nicht. Derjenige, der keinen Zugang zu Semiotik und Poststrukturalismus in die Lektüre mitbringt, wird mit großer Wahrscheinlichkeit den Roman schnell gelangweilt beiseite legen, weil er so verständnislos bleibt wie Bayard zu Beginn des Romans ist. Und die Passagen, in denen die Grundzüge der Theorien erklärt werden, wirken fremd in dem literarischen Konstrukt und können ihren akademischen Vorlesungscharakter nur selten ablegen. Die einzelnen Rezeptionsebenen, die sich in den genannten Eco-Romanen kongenial verzahnen, laufen hier zu stark nebeneinander her und bleiben dem, der die Gedankenwelt nicht kennt, die hier verhandelt wird, dann wahrscheinlich doch ziemlich reizlos und  fremd.


Laurent Binet: Die siebte Sprachfunktion. Roman. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2017 (22,95 €)