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Norbert Scheuer: Winterbienen

Die Authentizität des Geschriebenen zu verbürgen. indem man es reales Geschehen erscheinen lässt, etwa dadurch, dass man vom Erhalt irgendwelcher Dokumente berichtet, ist ein alter literarischer Topos. Er hat manchmal schon etwas Abgedroschenes, weil man als Leser weiß, dass man den Bekundungen nicht glauben mag, alles Erzählte sei gefunden, aber nicht erfunden. Liest man dergleichen am Anfang eines Romans, so weckt das selten Lust, weiterzulesen. Allzu sehr wirkt mittlerweile die Wirklichkeitsbürgschaft als Koketterie mit ungedecktem Scheck. In Norbert Scheuers Winterbienen stehen diese Bekundungen aber nicht am Anfang des Romans, sondern am Ende.

In der „Danksagung“ weist der Autor, der sich mit Namen, Datum und Wohnort eindeutig zu erkennen gibt, darauf hin, wie er auf die Aufzeichnungen des Egidius Arimond, der Hauptfigur des Romans, aufmerksam geworden und auf welche Weise eine Kladde mit einem Bündel von Heften in seinen Besitz gelangt sei. Dabei spielt eine Gruppe von Rentner eine zentrale Rolle, die sich alltäglich im Café des Supermarkts von Kall trifft, um sich dort beim Heißgetränk auszutauschen. Diese Gruppe stellte nun aber auch schon in Scheuers letzten Romanen ein erzählerisches Gravitationszentrum dar; dort allerdings selbst deutlicher als fiktive Gestalten. In dieser „Danksagung“ überschneiden sich also Fiktion und Wirklichkeit.

Dieses Sich-Verorten an Übergängen macht in vielerlei Hinsicht die poetologische Grundstruktur von Winterbienen aus. Das Café in Kall bildet einen Übergang von der Wirklichkeit zur Fiktion (und wieder zurück). Das Haus des Bienenzüchters liegt am Ortsrand und ermöglichst direkt vom Grundstück aus, in das verzweigte Höhlensystem abzusteigen, das durch den Jahrhunderte alten Bleierzabbau entstanden ist, ein Ort, der zum Schutzraum wird, vor den Bombenangriffen der Alliierten ebenso wie vor dem Terror der NS_Regimes vor Ort in Kall, ein Ort am Übergang zwischen Verborgensein und Sichtbarkeit. Und schließlich wird Kall selbst als Grenzort ausgewiesen, von dem aus Egidius Arimond Flüchtende über die Staatsgrenze nach Belgien bringt.

Man könnte noch weitere solcher Randlagen benennen, muss aber zunächst inhaltliche Zusammenhänge des Romans kurz skizzieren. Er besteht im Wesentlichen aus Tagebucheinträgen und Notaten der Hauptfigur und stammen wohl im wesentlichen aus dessen Feder. Einige sind undatiert; trotzdem kann man den Zeitraum der Aufzeichnungen von Januar 1944 bis Mai 1945 ziemlich genau benennen. Sie fallen also in die Zeit des langsamen und verlustreichen Vordringens der Alliierten und das Ende des NS-Regimes. Von den schweren Kämpfen im Hürtgenwald, von der Ardennenoffensive und letztlich der Niederlage der deutschen Wehrmacht erfährt man relativ wenig, so nah das alles auch ist. Viel deutlicher spürbar sind die immer häufiger werdenden Überflüge der alliierten Luftwaffe, insbesondere Richtung Köln, und die Bombenangriffe auf den Ort selbst, der immer mehr zerstört wird.

Egidius Arimond ist Epileptiker, ist aufgrund seiner Erkrankung von seiner Tätigkeit als Lehrer suspendiert und wird auch nicht zur Wehrmacht eingezogen. Er lebt in der ständigen Sorge, aufgrund seiner Erkrankung von den Nazis abgeholt, eingesperrt und letztlich getötet zu werden. Über seinen Bruder, der selbst ein renommierter Luftwaffenpilot ist, erhält er Medikamente, mit denen er die Epilepsie versucht, im Zaum zu halten. Außerdem nutzt er das Geld, das er für die Flüchtlingstransporte bekommt, um sich auch auf diesem, illegalen Weg mit Medikamenten zu versorgen. Beide Versorgungswege werden im Laufe des Erzählten immer schwieriger, die epileptischen Anfälle nehmen zu und bringen ihn zunehmend in Gefahr.

Arimond ist ein merkwürdiger Mensch und mit Sicherheit keine Identifikationsfigur. Er ist ein schwebender Charakter, den man nur schwer zu fassen bekommt. Er steht über Kassiber, die in der örtlichen Bibliothek versteckt werden, in Kontakt mit einer Untergrundorganisation, die Verfolgte des NS-Regimes außer Landes bringen will. Es bleibt dabei aber immer unklar, aus welchen Motiven heraus er handelt. Folgt er humanitären Impulsen? Ist es seine Form von Widerstand gegen ein Regime, das Epilepsie als Erbkrankheit betrachtet, welche „ausgemerzt“ werden soll? Geht es ihm in erster Linie ums Geld, das er von den Flüchtenden bekommt? Indifferent ist auch seine Beziehung zu Frauen. Er scheint zu sein, was man heutzutage vielleicht einen „Womanizer“ nennt, der gleich mehrere lockere Beziehungen pflegt. Gleichzeitig erweist er sich aber als sehr liebevoller und fürsorglicher Mann, der sich als eine Art Ersatzvater um die Kinder kümmert, deren Väter im Krieg sind.

Vor allem aber ist Egidius Arimond Imker, und das von hoher Sachkunde. Er sieht sich als solcher selbst in einer Jahrhunderte langen Tradition, die Ende des 15. Jahrhunderts mit dem Benediktinermönch Ambrosius einsetzt. Dessen Schriften, die er in der schon erwähnten Bibliothek von Kall findet, übersetzt er. Darin schreibt Ambrosius nicht nur seine Kenntnis der Bienenzüchtung nieder, sondern schildert auch eine gefährliche Expedition, bei der das Herz des verstorbenen Nikolaus Cusanus über die Alpen nach Köln gebracht worden ist. Dass Ambrosius den Orden schließlich verließt, weil er eine Liebesbeziehung zu einem Bauernmädchen eingegangen war, macht ihn zu einer Spiegelfigur des Egidius Arimond und die Geschichte, die er erzählt, zu einer Parallelhandlung, die den Haupterzählstrang kommentiert.

Aber es bleibt ein Kommentar, ist keine zeitlich verschobene Doublette. Ihre Bezugnahmen aufeinander bedürfen der Deutung durch den Leser, ohne dass er damit an ein Ende käme. Das gilt auch für die ausführlich geschilderte (aber niemals langweilige) Schilderung des Lebens der Bienen, das Arimond im Jahreszyklus akribisch festhält. Je mehr man über die Bienen liest (mag sein, als Leser, der zuvor keine Ahnung von der Imkerei hatte), desto mehr drängt sich der Eindruck auf, auch hier beschreibe Arimond eine Art totalitären Staat. Der unterwirft alles dem Überleben des Volkes, sieht die einzelnen Mitglieder rein funktionalistisch und entledigt sich ihrer, wenn sie nicht mehr gebraucht werden. Nahezu zwangsläufig und erst recht im Kontext des Erzählten erschrickt man vor den Parallelen, die man zum NS-Staat erkennt. Zugleich geht aber von den Bienen eine große Faszination aus, und das nicht nur weil sie selbst indirekt zur Fluchthelfern werden, was hier nicht näher nacherzählt werden soll. Ihre Effizienz, ihr hoher Grad an Organisiertheit, ihre Anpassungsfähigkeit und ihre Resistenz gegen Unbilden lassen eine natürliche Überlegenheit erahnen, die den Homo sapiens in den Schatten stellt. Einmal mehr weiß der Leser nicht, wie er das beurteilen soll.

Aber das ist es, was Norbert Scheuers Winterbienen so lesenswert und faszinierend macht. Die Vielfalt der Ebenen, auf denen man den Roman lesen kann, macht ihn zu einem großen Stück Literatur. Es ist „die äußerte Nähe von symbolischen Zeichen und konkreter Realität“, so lautet die Begründung für die Vergabe des Wilhelm-Raabe-Literaturpreises 2019 an Norbert Scheuer, die das Spannungsverhältnis öffnet, in die sich der Leser begibt. Ein Spannungsverhältnis, das sich uneingeschränkt lohnt.


Norbert Scheuer: Winterbienen. Roman. – München: Verlag C.H. Beck 2019.

Nachlese

Norbert Scheuers Roman fand in den Blogs und im Feuilleton einen großen und positiven Widerhall. Besonders empfehlen möchte ich die Artikel auf den Blogs Zeichen & Zeiten und literaturleuchtet.

Bildnachweis: PollyDot auf Pixabay