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ein altes Weihnachtsgedicht

Wer kennt Dorothea Seelhorst? Sollte jemand nicht abwinken, wäre das reiner Zufall. Dorothea Seelhorst war in den Jahren 1965 bis 1970 die verantwortliche Redakteurin der legendären Weihnachtshefte von Tchibo. Diese Hefte, die damals den Kunden kostenlos zur Verfügung gestellt wurden, erzielen heute auf Tauschbörsen und in Antiquariaten erstaunliche Preise. Ich weiß noch, ich habe sie als Kind geliebt, habe meine Mutter in der Vorweihnachtszeit geradezu angebettelt, ja daran zu denken, wieder ein solches Heft mitzubringen. 1970 erschien das letzte dieser Hefte im Querformat, dann wurde diese Aktion eingestellt. Einige Jahre später wurde, offensichtlich unter anderer redaktioneller Leitung und mit veränderter Konzeption, das Projekt noch einmal aufgenommen, konnte aber an die alten Hefte nicht mehr anknüpfen.

Diese Hefte versammmelten Weihnachtslieder, Gedichte und Geschichten rund um das Fest. Sie taten es in einer Form, die wir heute, zurückhaltend gesagt, als editorisch nachlässig bezeichnen würden. Die Texte hatten offensichtlich keine Autoren; Quellen wurden nicht genannt. Gestört hat das aber alles überhaupt nicht. Denn diese Hefte hatten Flair, ja vielleicht sogar so etwas wie eine Aura, die mich als Kind stark ansprach. Gerne hätte ich eine Seite aus diesen Heften hier zur Verfügung gestellt,  bin mir aber nicht sicher, ob ich damit nicht gegen Urheberrechte verstoßen würde und habe deshalb darauf bedauernd verzichtet. Frau Seelhorst  jedenfalls habe ich ein Stück meiner literarischen Sozialisation zu verdanken. Durch sie, durch ihr Heft mit dem Titel „Es weihnachtet sehr“ stieß ich auf das, wie gesagt hier autorenlose, Gedicht.

Weihnachten

Markt und Straßen stehn verlassen,
Still erleuchtet jedes Haus,
Sinnend geh ich durch die Gassen,
Alles sieht so festlich aus.

An den Fenstern haben Frauen
Buntes Spielzeug fromm geschmückt,
Tausend Kindlein stehn und schauen,
Sind so wunderstill beglückt.

Und ich wandre aus den Mauern
Bis hinaus ins freie Feld,
Hehres Glänzen, heilges Schauern!
Wie so weit und still die Welt!

Sterne hoch die Kreise schlingen,
Aus des Schnees Einsamkeit
Steigts wie wunderbares Singen –
O du gnadenreiche Zeit!

Wann war das? Sicherlich nicht 1965, als dieses erste Weihnachtsheft unter die Tchibo-Kunden kam. Ich war, wie andernorts erwähnt, kein frühreifer Leser, und erst recht nicht im Alter von vier Jahren. Gewiss ist aber auch, dass ich bei der schulischen Nikolausfeier im Dezember 1970 als Viertklässler ausgeguckt worden war, diesem „heiligen Mann“, der uns mit seinem Gefolge besuchen kam, ein Gedicht vorzutragen. Das war nicht das hier abgedruckte Weihnachtsgedicht, sondern Theodor Storms „Knecht Ruprecht“. Aber mein Text, auf dessen Grundlage ich Von drauß vom Walde her auswendig lernte, befand sich in dem angesprochenen Tchibo-Heft, in dem beide Gedichte abgedruckt worden waren. Irgendwann vor dem Nikolausfest 1970 muss ich also auf Markt und Straßen stehn verlassen gestoßen sein. Genauer kann es nicht datiert werden.

Es war ein Gedicht, daran kann ich mich erinnern, das mich zugleich berührte und befremdet zurückließ. Sein Tonfall, sein Rhythmus und Reim, dem man sich kaum entziehen kann, die Bilder, die entworfen werden, schufen eine Vorstellung davon, dass hier etwas Besonderes verhandelt wurde. Es passte durchaus in die kindliche Erfahrung dessen, was Weihnachten sein konnte, vielleicht sein sollte. Alles sieht so festlich aus. Ja, das war nachvollziehbar, das entsprach dem, was ich als Kind zuhause selbst erleben durfte. Das Gedicht bestätigte das, was man etwas kindlich sentimental als „Zauber“ bezeichnen kann.

Aber da war auch die andere Seite, mit der ich gar nichts anfangen konnte, die sich mir entzog und die spätestens mit der dritten Strophe begann. Und ich wandre aus den Mauern / bis hinaus ins freie Feld. Was macht der denn da? Der, den ich als lyrisches Ich nicht zu bezeichnen wusste, woher auch. Der geht durch die Gassen, beobachtet durch die ‚erleuchteten‘ Fenster die Menschen in ihrer festlichen Weihnachtsfreude, sieht die Kinder wunderstill beglückt – und verschwindet. Verlässt das Dorf oder die Stadt und wandert ins freie Feld. Was soll das denn? Warum geht er nicht irgendwo hinein, warum geht er nicht nach Hause? Hier erfuhr ich etwas, was mit meinen kindlichen Vorstellungen von Weihnachten so gar nicht zusammenpasste. Weihnachten, das war doch das, was er vorher gesehen und beschrieben hatte. Das war Licht, das war Wärme, das war Familie, das waren die Kinder, das waren auch Geschenke, Spielzeug. Aber das war gewiss nicht die Abkehr von all dem und der Spaziergang ins Menschenferne. Und das alles soll gnadenreich sein, was immer das Wort auch bedeuten mochte? Das Gedicht überforderte mich, es wurde weggelegt – und hat mich dennoch nicht mehr losgelassen.

Bis heute! Mittlerweile habe ich gelernt, das Gedicht zu verstehen. Ich hatte das Glück, mir in den Jahren und Jahrzehnten nach der kindlichen Erstbegegnung mit „Weihnachten“ die Wege erschließen zu dürfen, um einen Zugang zu finden. Doch was bleibt, wenn ich alles weglasse, was ich über dieses Gedicht weiß? Wenn mir der Name Joseph von Eichendorff nichts sagen würde, wenn ich nicht wüsste, dass der Text 1837 veröffentlicht wurde, wenn ich von der literarischen Romantik nie etwas gehört hätte, von romantischer Sehnsucht, Transzendenz und einer ins Religiöse hineindimensionierten Ästhetik? Wenn ich von all dem absehe, dann bleibt die Verstörung von damals, immer noch das Unverständnis über den Menschen, der offensichtlich nicht dabei sein will, wenn Weihnachten gefeiert wird, der den Erlösungschoral nur hört, dieses wunderbare Singen, wenn er außen vor bleibt, zurückgezogen ins Naturerleben. Gnadenreiche Zeit wäre dann demnach grundsätzlich anderswo. Schwer erträglich, gestern wie heute.

Schlimmer nur, eine solche Literatur nicht zu haben, eine Literatur, die einen Zauber entfaltet und sich zugleich der Identifikation entzieht, die Erhabenes vermittelt und dennoch verstört. Gerade jetzt, gerade heute.

Ich wünsche allen in diesem Sinne eine frohe, eine literarische Weihnacht!


Bildquelle: https://pixabay.com/de/schnee-nacht-mond-k%C3%A4lte-winter-642454/