Jürgen Wiebicke: Sieben Heringe

Wie gut kennt man eigentlich die Lebensgeschichte der eigenen Eltern? Im ersten Erinnerungszugriff ist man sich ihrer und damit auch immer seiner selbst meistens recht schnell sehr sicher. Daten können genannt und wesentliche Lebensstationen von Vater und Mutter benannt werden. Belässt man es dabei, wähnt man sich in der Annahme, ein Stück weit Verfügungspotenzial über deren Geschichte zu haben. Solche Annahmen können so weit führen, dass die Zufälligkeit des eigenen Seins als zwangsläufig, als erkannte Gesetzmäßigkeit erscheint, als liefe das Leben der Eltern geradezu stringent auf das eigene zu. Das macht das Eine oder Andere im eigenen Dasein leichter aushaltbar, ohne Zweifel.

Was aber geschieht, wenn die Annahme nicht stimmt? Wenn man bemerkt, man wisse zwar manches, aber nicht alles über das Leben der Eltern? Was, wenn es blinde Flecken gibt, an deren Dunkelheit oder gar Schwärze man nicht vorbeischauen kann? Oder von denen man zumindest weiß, sie sind da, aber sie lassen sich nicht erhellen?

Warum nicht? Weil vielleicht die Eltern nicht mehr leben. Weil es keine weitere Zeugenschaft mehr gibt. Weil zuvor versäumt wurde, nachzufragen, darüber zu sprechen. Chance vertan. Im Regelfall endgültig. Weiter leben müssen mit dem blinden Fleck.

Mag sein, ja es ist sogar wahrscheinlich, dass Jürgen Wiebickes familienbiographischer blinder Fleck nicht vollständig verschwunden ist, aber am Ende seines Buches ist gewiss, dass er kleiner geworden ist. Trostreich sind die gewonnenen Erfahrungen und Einsichten allemal. Sie geben nicht dem Tod der Mutter, der am Ende zu beklagen ist, eine andere Qualität, wie könnte das auch sein. Aber ihrem Leben.

Anfangs erschien es mir noch so, als würde sie erzählen, weil sie es muss, als ob ein innerer Druck sie dazu zwänge, doch nun bin ich mir sicher, dass sie spricht, weil sie es möchte. Sie ist wirklich frei. Sie hat sich dort hingearbeitet, indem sie nach und nach erfahren konnte, dass sich durch das Sprechen ihre Wirklichkeit selbst verwandeln lässt. Was für eine schöne Lektion über die Chancen am Lebensende, die zu lernen sie mir ermöglicht. Das ist es doch, was ich festhalten möchte, indem ich alles notiere, was sie Tag für Tag zur Sprache bringt. Sie wird spät Autorin ihres eigenen Lebens, gewinnt dadurch an Autonomie, obwohl ihr leidender Körper sie täglich mehr dazu zwingt, zugleich Autonomie abzugeben.

Gesprochen hat Wiebickes Mutter in den letzten Monaten vor ihrem Tod über bis dahin verschwiegene Lebensabschnitte. Sie erzählt von den Erlebnissen in der NS-Zeit und vor allem im Krieg. Und ihr Sohn hat mitgeschrieben, mit ausdrücklicher Zustimmung der Mutter. Es gibt einzelne Szenen, in denen es plastisch wird: die Mutter im Sessel oder auch am Kaffeetisch im Kreis der Familie, erzählend, nur selten unterbrochen von dem oder den Zuhörenden, und Jürgen Wiebicke mit einer Kladde, in die er das Erzählte notiert.

Das hört sich nach bürgerlicher Idylle an; ist es aber nicht. Dafür sind allein schon die Erinnerungen und Erlebnisse, die geschildert werden, zu schrecklich. Es entstehen bei den Leserinnen und Lesern eindringliche Bilder von existenziellen Erfahrungen: Bombennächten in Nürnberg, die wachsende Zerstörung der Heimatstadt Köln, Hunger, Not, Tod. Ergänzt werden die Erinnerungen der Mutter durch Rückblicke der Tante aus deren ostpreußischer Jugend, ihrer Vertreibung, Vergewaltigung und Todesängste, und den spärlich bekannten Kriegserinnerungen des Vaters, der noch als Siebzehnjähriger an die Front ist Baltikum geschickt worden war und das Kriegsende nur deshalb überlebte, weil er Glück hatte.

Über die konkreten Schreckenserfahrungen hinaus verbindet die Menschen, mit denen uns Jürgen Wiebicke bekannt macht, dass sie alle Opfer der Zeit waren. Es geht nicht um Schuld und Versagen, sondern um die Frage, wie sie mit den Traumata des Krieges haben weiterleben können, wie die erlebten Grenzerfahrungen sich ausgewirkt haben auf das Leben dieser Menschen wie auch auf die Familienbiographie.

So fließt zwangsläufig eine weitere Ebene in die Darstellung ein und durchzieht sie, und das sind die Gedanken und Reflexionen die den Autor umtreiben. Seine Darstellung ist nie nur Nacherzählung, sondern wird immer klug und abwägend kommentiert. Hier erlebt man dann auch Jürgen Wiebicke, wie man ihn von seinen journalistischen Arbeiten, insbesondere vom Philosophischen Radio im WDR her kennt: reflektiert, abwägend, unaufdringlich und zugleich klar in der eigenen Orientierung. Es ist ein bewegendes und zugleich stilles Buch. Man hätte es ganz anders aufziehen können, aber das ist zum Glück der Leserinnen und Leser nicht Wiebickes Ding.

Schließlich, ungefähr auf den letzten 40 Seiten, tritt die Erinnerungsarbeit zurück, weil sich in der letzten Lebensphase der Mutter der Bauchspeicheldrüsenkrebs endgültig ihres Körpers bemächtigt. Ohne auch nur ein einziges Mal den Leserinnen und Lesern eine voyeuristische Perspektive auf einen sterbenden Menschen zu bieten, dokumentiert Jürgen Wiebicke eindringlich, ja berührend das Sterben der Mutter. Die Würde, die die Mutter durch ihr Erzählen sich selbst zurückgegeben hat, wird ihr durch den Tod nicht genommen. Dass sie bleibt, dafür sorgt dieses eindringliche Buch.


Jürgen Wiebicke: Sieben Heringe. Meine Mutter, das Schweigen der Kriegskinder und das Sprechen vor dem Sterben. – Köln: Verlag Kiepenheuer und Witsch 2021.

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