Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut

Erst am Ende gibt Michael Köhlmeier die bis dahin weitgehend durchgehaltene Erzählperspektive auf, wird auktorial und appelliert an den Leser:

Wenn es wahr ist, dass an Gottes rechter Seite sein Liebling steht, bei allem, was er tut, was er pflanzt und segnet, wenn das wahr ist, so hör die Schritte, die kleinen, die großen, das Trippeln und das Stampfen! Warte, bis sich deine Augen an die Dunkelheit gewöhnen! Und nun? Kannstkoehlmeyer01_esel_600 du sie sehen? Kannst du sie beide sehen?

Derjenige, der zur Rechten Gottes sitzt oder steht, ist in der christlichen Überlieferung der Sohn Gottes. Und im christlichen Glaubenbekenntnis heißt es, dass er, der am dritten Tag von den Toten auferstanden und in den Himmel gefahren sei, wiederkommen werde „in Herrlichkeit, zu richten die Lebenden und die Toten“. So oder zumindest so ähnlich lautet dieser Passus.

Kann man diese wenig kaschierte Anspielung auf die christliche Erlösungsvorstellungen verbinden mit einem anderen Bezugstext, der offensichtlich für die Erzählung vom Mädchen mit dem Fingerhut eine Rolle spielt? Auf Hans Christian Andersens Märchen vom kleinen Mädchen mit den Schwefelhölzern, auf das mehrfach in Besprechungen des neuen Köhlmeier-Buches hingewiesen wurde? Man kann. In Andersens Märchen wird am Ende das arme und sich zu Tode frierende Mädchen durch die Aufnahme in den Himmel erlöst, während die Zurückgebliebenen konfrontiert bleiben mit dem grausamen Erfrierungstod, der die soziale Hoffnungslosigkeit augenscheinlich macht. Köhlmeiers Text schreibt den Erlösungsgedanken um und bindet ihn zurück. Denn die beiden Kinder, die im Gegensatz zum Mädchen im Märchen, immer noch unterwegs sind und auf die der Erzähler in der zitierten Passage mit großem Nachdruck weist, werden zu Personifikationen göttlicher Zuwendung stilisiert unter der Voraussetzung, der Leser wende sich diesen Kindern mit Aufmerksamkeit und Empathie zu. So der Appell.

Die humane Hinwendung zum Flüchtlingskind als Möglichkeit der Selbsterlösung – trägt die als Roman angezeigte Erzählung diese Lesart? Um darauf eine Antwort zu finden, muss man vielleicht auf die bisherige Rezeption schauen, auf den Inhalt und die Form des Erzählens. Fangen wir mit dem Ersten an.

Als die Erzählung im Februar diesen Jahres erschien, fiel sie aufgrund ihres Sujets nahezu zwangsläufig in die aktuelle politische Debatte um Migrationsströme, Flüchtlinge, moralische Verpflichtungen gegenüber den Notleidenden, Aufnahmekapazitäten und Strategien der Absicherung der sogenannten Außengrenzen. Das Buch geriet in einen Wahrnehmungshorizont, vor dessen Hintergrund auch Romane gelesen wurden wie Jenny Erpenbecks Gehen, ging, gegangen oder auch Abbas Khiders Roman Ohrfeige, der im Übrigen zeitgleich mit dem Mädchen mit dem Fingerhut im gleichen Verlag erschien. Während der Migrations- und Integrationsdiskurs für die beiden letztgenannten Werke geradezu konstitutiv ist, gilt das für Köhlmeiers Erzählung aber nicht in gleicher Weise.

Sie beginnt mit der Schilderung einer Situation, die nicht erst bekannt ist, seitdem die Zahl an Flüchtlingen in den Europa zugenommen hat. Denn sie erinnert viel mehr an Verhaltensweisen, die man eher von sogenannten Drückerkolonnen kennt. Da werden Menschen ausgesetzt mit einem Auftrag, den sie auszuführen haben, und am Abend wieder eingesammelt. Da gibt es brutale Ausbeutungshierarchien, aus denen sich die Betroffenen nur schwer befreien können, in sozialen Mikrosystemen, die hermetisch abgeschlossen zu sein scheinen. Das sechsjährige Mädchen, das zunächst keinen Namen hat und schließlich Yiza heißen wird, wird morgens von einem Mann, den sie „Onkel“ nennt, in einer namenslos bleibenden Stadt ausgesetzt. Sie hat den Auftrag, zu einem Fischhändler zu gehen. Was sie da soll, auch das bleibt im Unklaren, offensichtlich Mitleid erregen und Geschenke annehmen. Abends sammelt der „Onkel“ sie wieder ein – eben bis er eines Abends nicht mehr kommt und das Mädchen auf sich allein gestellt ist. Nun beginnt dessen eigentliche Odyssee. Man kann es hier kurz machen; der Verlauf wurde schon so oft referiert. Es landet bei der Polizei, trifft dort auf zwei Jungen, die ebenfalls alleine unterwegs und aufgegriffen worden sind, wird in einem Kinderheim aufgenommen, kann mit den Jungen dort fliehen und begibt sich wieder auf eine ziellose Wanderschaft. Der ältere der Jungen wird schließlich erneut aufgegriffen, die beiden anderen Kinder können fliehen und bleiben trotz einiger Schwiergkeiten zusammen. Das Ende bleibt offen.

Es scheint nahe zu liegen, dass auch die Erzählhandlung die Flüchtlingsthematik bedient. Aber auch auf dieser Ebene muss man vorsichtig sein. Der Text entzieht sich der Diskussion um moralische Verantwortung und Aufnahmepotentiale, entzieht sich auch der Debatte um wachsende Ressentiments gegenüber den Ankommenden. Denn die Kinder treffen, von einer Ausnahme abgesehen, eigentlich immer nur auf hilfsbereite Menschen, von denen sich einige zwar selbst in den Vorgaben adminstrativer Abläufe verstrickt sehen, die sich aber den Kindern zuwenden und ihnen die Ankunft in dem ihnen fremden Land ermöglichen wollen. Wenn im Klappentext des Buches von einer Welt gesprochen wird, „die nichts von ihnen wissen“ wolle, so muss man dieser Äußerung widersprechen. Die Textbefunde sind nicht so. Die Kinder fliehen immer wieder, nicht weil ihnen Missachtung und Ablehnung entgegenschlägt, sondern weil ihnen diese Welt existenziell fremd ist. Diese Fremdheit beruht im Übrigen auch auf einem virulenten Sprachproblem. Die Kinder können sich sprachlich nicht verständigen.

Diese sprachlich geprägte Fremdheit schägt sich auch auf den Erzählstil nieder. Seine Kunstfertigkeit liegt in seiner augenscheinlichen Kunstlosigkeit. Köhlmeier erzählt in einer auffallend einfachen Sprache und fängt darüber überzeugend die personale Perspektive des Kindes ein. Das hält er durch bis zur eingangs zitierten Sequenz am Ende des Buches, die sprachlich völlig überraschend kommt und einen erheblichen Bruch markiert. Irgendwie, so scheint es, wollte Köhlmeier die Geschichte zu einem Ende bekommen und eine Botschaft mit dem Erzählten verbinden. Aber das geht nicht auf. So wie die Welt, in denen sie sich bewegen, den Kindern fremd bleibt, so fremd bleiben dem Leser bei allem Bemühen auch die Kinder. Die, die Köhlmeier da zeigt, eignen sich nicht als Erlösungsengel. Vom Ende her erfahren sie eine Bedeutungsüberfrachtung, unter der sie und mit ihnen die Geschichte zusammenbrechen muss.

Mehr als 50 Jahre ist es her, 1965, wir führten keine Migrations-, aber eine Gastarbeiterdebatte, als Max Frisch sorgenvoll seine Stimme erhob: „Ein kleines Herrenvolk sieht sich in Gefahr: […].“ So beginnt sein Vorwort zu dem Buch Siamo Italiani. Gespräche mit italienischen Gastarbeitern. Und er setzt, später immer wieder zitiert, fort: „[…] man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kommen Menschen.“ Es ist ein Text, der in eine politische Lndschaft den Pflug gräbt, die einen hohen Wiedererkennungswert hat, aber keinen beruhigenden. „Es kommen Menschen“. Mir scheint, mit diesem Blick schaut man weiter als mit eschatologisch anmutenden Heilserwartungen an die, die da gekommen sind und kommen werden.


Michael Köhlmeier: Das Mädchen mit dem Fingerhut. Roman. – München: Carl Hanser Verlag 2016 (18.90 €)

Nachgelesenes

Weitere Beschäftigungen mit Köhlmeiers Erzählung findet man unter anderem auf dem grauen Sofa, in den Bücherrezensionen, bei der Frankfurter Rundschau und im Deutschlandradio.