Hans Platzgumer: Am Rand

HITOTSU – das ist das erste Wort der fünf Grundregeln des Karate. In diesen sogenannten Dōjōkuns verbirgt sich fast die gesamte Ethik des ostasiatischen Kampfsports; sie betonen gerade nicht das Kämpferische, sondern Respekt, Disziplin und Charakterstärke. HITOTSU bedeutet in diesem Zusammenhang so viel wie „erstens“ und signalisiert, dass alles gleich wichtig ist. HITOTSU – so beginnt dann auch jedes Kapitel des Romans Am Rand; dessen Bedeutung erschließt sich in Laufe der Handlung. HITOTSU – das gleich Wichtige wird aber nicht zu dessen Konstruktionsprinzip, und das ist gut so. Denn dann fehlte vielleicht doch eine Erzählstruktur, die das Leben des Ich-Erzählers Gerold Ebner fassbar machen würde. Das Gegenteil ist eher der Fall. Denn in der Tat ist nicht alles gleich wichtig in diesem Roman. Er hat vielmehr eine klare Perspektive, letztlich einen Kern oder einen Kristallisationspunkt, und der hat schon fast etwas Barockes. Denn das gezeigte Leben ist immer vom Tod umgeben und strebt zugleich auf ihn zu.

Hans Platzgumer erzählt die Geschichte eines Außenseiters, den man zunächst so oder so ähnlich in der österreichischen Literatur nicht selten antrifft. Er ist das einzige Kind einer ehemaligen Prostituierten, die nach der Geburt des Sohnes 1969  eine plötzliche Wandlung durchmacht, ihren Halt im Katholizismus findet, als Krankenpflegerin in einem Kloster arbeitet und nun – wie der Ich-Erzähler lapidar im Rückblick bemerkt – „die Männer pflegt, die sie eigentlich hätte hassen sollen“. Eine Folge ihres caritativen Engagements ist der Umstand, dass der Junge recht früh auf sich alleine gestellt ist. Sie vernachlässigt ihn nicht, aber ihr Verhältnis zueinander bleibt durchgängig geprägt von einem Gefühl der Distanz und Fremdheit.

Außenseiter ist der Junge aber auch aufgrund seiner Herkunft. Seine Mutter war als Teenagerin aus Glurns, einer Kleinstadt in Südtirol, abgehauen und lebte seither und schließlich auch mit ihrem Sohn in einer sogenannten Südtirolersiedlung in Bludenz, einer Stadt in Vorarlberg. Im Roman selbst wird kurz erläutert, was es mit diesen Siedlungen auf sich hat. Ich gestehe,  ich hatte den Begriff „Südtirolersiedlung“ zuvor nie gehört und wollte wissen, ob das im Roman eine fiktive Sozialkonstruktion sei oder nicht. Man muss nicht lange recherchieren, um zu erfahren, dass diese Siedlungen authentisch sind. Sie sind ein Resultat des 1939 geschlossenen Hitler-Musolini-Abkommens. Darin wurde unter anderem vereinbart, die Südtiroler zur Entscheidung zu zwingen, ob sie weiterhin in Italien unter faschistischer Herrschaft leben  oder ins damalige Deutsche Reich auswandern wollten. Für die hohe Zahl der sogenannten „Optanten“, also jener Menschen, die sich für die Auswanderung entschieden, wurden vor allem in den westlichen Teilen Österreichs eilends Siedlungen errichtet, die alle architektonisch einen markanten Stil aufweisen. Das sind die sogenannten Südtirolersiedlungen, die es auch heute noch gibt.

Solche in sich geschlossenen Siedlungsstrukturen tragen bekanntlich nicht unbedingt zur Integration ihrer Bewohner in die neue Umgebung bei. Dessen ist sich der Ich-Erzähler von früh auf bewusst:

Von Nationalsozialisten geduldet, von Faschisten vertrieben, irgendwo dazwischen hängengeblieben. Ich einer von ihnen, wenn auch nachgeboren. Dieser Erkenntnis hing keinerlei Stolz, kein Zusammengehörigkeitsgefühl, kein Chauvinismus an. Kein Lokalpatriotismus, nichts Schönes, Großes, ja Romantisches lag in so einer Herkunft, keine neue Identität hatte sich aus dem Verstoßenwerden, dem Nirgends-Dazugehören ergeben. Nur eine Zerrissenheit war es, die dieses uns kennzeichnete, das dadurch lange noch kein wir wurde. Bis tief hinein zog sie sich auch in mich, der ich rein zufällig hier gelandet war, wie jeder Mensch erstmal zufällig irgendwo landet. Ein Siedlungskind war ich, und Siedlungskinder blieben unter sich, hinter durchsichtigen Mauern abgesondert vom Rest der Welt.

Das Stigma aber schweißt auch zusammen, zumindest die Peer-Group. Und so sieht sich Gerold Ebner in seinen Jugendjahren als Mitglied einer Gang, die sich „A-Südtirolers“ nennt und eigentlich nur aus drei Jungs besteht. Sensibel beobachtet er, dass sich die Rebellion der Jugendlichen  gerade nicht gegen jene richtet, die solche Ausgrenzungsmechanismen zu verantworten hätten, sondern gegen rivalisierende Gruppen, die aufgrund ihrer eigenen Migrationsgeschichte zu den Benachteiligten gehörten. So kommt es immer wieder zu Schlägereien mit den „Jugos“ und der „Merano-Bande“. Schließlich kommen die drei Jungen mit Karate in Kontakt. Sie lernen nicht nur, sich gegenüber den anderen Gangs physísch zu behaupten, das wird im Detail auch gar nicht erzählt; sie  konfrontieren sich vor allem mit Haltungen und den Selbstdisziplinierungsritualen, die Karate dem Einzelnen abfordert. Auch wenn sich mit und mit und am Ende alle wieder von diesem Sport abwenden, so bietet er doch für einige wichtige Jahre der Jugendzeit einen Horizont, an dem sie sich reiben können.

Ihre zunehmende Körperbeherrschung und Kraft macht es ihnen zugleich aber auch relativ leicht, sich immer wieder in hochriskante Situationen zu begeben und der aufgesuchten Lebensgefahr in einer Weise die Stirn zu bieten, die man von außen und mit dem abgeklärten Blick des Erwachsenen betrachtet, für vollkommen leichsinnig, ja bescheuert halten muss. In einer Episode schildert der Ich-Erzähler die nächtliche Besteigung eines Baukrans, die auf intensive und eindringliche Weise deutlich macht, wie nah sich die Jungen am Tod entlang bewegen. Dabei kann man als Leser den Eindruck gewinnen, dass sie sich dessen auch durchaus bewusst sind. Der Tod scheint so viel nicht zu zählen.

Das lernt der Junge ohnehin schon früh. Der Rückblick auf sein eigenes Leben beginnt gleich mit einer Totenbegegnung. In der Nachbarwohnung fand man, der Junge war sieben Jahre alt, die mumifizierte Leiche des Nachbarn, der dort rund ein Jahr tot im Fernsehsessel verbracht hatte, bevor seine Mutter ihn durch Zufall entdeckte. Ihm folgen weitere Tote. Schade ist, dass der Klappentext die beiden folgenden Toten sehr stark in den Vordergrund rückt, so als erwarte den Leser die Geschichte eines Mehrfachmörders. Das wird der Dimension, die die Romanhandlung auffächert, nicht gerecht, auch wenn es natürlich richtig ist festzuhalten, dass der Ich-Erzähler zwei Mal aktiv das Leben eines anderen Menschen beendet. Da ist zunächst die Tötung seines Großvaters, der plötzlich wieder ins Leben der Mutter tritt, sie drangsaliert und ausnutzt. Andeutungen lassen die Vermutung zu, dass das Verhältnis zwischen Vater und Tochter  schon aus den Kinder- und Jugendtagen extrem belastet war und ein Missbrauch als eigentliche Ursache der Spannungen nicht auszuschließen ist. Als der Großvater aufgrund seiner schweren und unheilbaren Lungenerkrankung bettlägerig wird, erstickt ihn der Ich-Erzähler. Die dazu notwendige Körperkraft hatte er ja mittlerweile. Ein zweites Mal hilft er seinem besten Freund zu sterben, nachdem der aufgrund eines wirklich grausigen Arbeitsunfalls menschlich gebrochen ist und keine Lebenssinn mehr hat. Beide Tötungshandlungen wären ohne Zweifel im juristischen Sinne Strafdelikte, für beide kann man gleichwohl Verständnis entwickeln, ohne sie zugleich verteidigen oder gar entschuldigen zu wollen. Das aber ist auch in keiner Weise Absicht des Romans oder des Ich-Erzählers.

Ein letztes, vielleicht muss man genauer sagen ein vorletztes Mal begegnet dem Ich-Erzähler der Tod unerwartet. Gerold Ebner, dem Ich-Erzähler, ist es schließlich gelungen, eine stabile Partnerschaft und große Liebe aufzubauen, eine Liebe, die seinem eigenen Leben endlich Halt gibt. Was den beiden versagt bleibt, ist ein Kind. Der Wunsch danach ist aber bei beiden so groß, dass sie, als sie auf der Rückreise von einem Urlaub in Südfrankreich auf ein ausgesetztes Kleinkind stoßen, dieses Mädchen mit- und als das eigene annehmen. Sie sind sich der Schwierigkeit und Problematik ihres eigenen Handelns bewusst und verstecken ihre plötzliche Elternschaft vor der Außenwelt. Das tun sie im vollen Bewusstsein, ein solches Versteckspiel nicht dauerhaft aufrecht erhalten zu können. Als sie sich schließlich mit dem Kind in die Öffentlickeit trauen und gemeinsam eine Bergwanderung machen, verunglücken Elena und das Mädchen tödlich.

Quelle: http://www.tourenspuren.at/wp-content/uploads/bocksbergf-092.jpg

Deren Tod nimmt Gerold Ebner den Rest an Lebenssinn, den er hatte. Er begibt sich schließlich auf eine Klettertour auf den Bocksberg, einem Berg bei Hohenems im Vorarlbergischen, nicht weit von seinem Wohnort, um sich von dessen Gipfel über eine Steilwand in die Tiefe zu stürzen. Der Aufstieg auf den Berg und vor allem der Aufenthalt an der Klippe bilden die Rahmenhandlung. Hier sitzt der Ich-Erzähler, schreibt seine Geschichte auf, um sie am Ende zu hinterlassen, wenn er sich selbst von der Felsklippe heruntergestürzt haben wird.

Die Lebensgeschichte, die der Roman erzählt, hat mich im Laufe des Erzählens immer mehr gepackt und mitgezogen. Wie viel Leid erträgt der Mensch, ohne dass oder bis er daran zerbricht? Das ist zwar ohne Zweifel ein Dauerthema der Literatur, aber es scheint neben den Dystopien durchaus im Moment in besonderen Maße im Aufmerksamkeitshorizont der Literatur und ihrer Leser zu liegen. Anders wären die Erfolge so wunderbarer wie  auch literarisch ansprechender Romane wie Robert Seethalers 2014 erschienener Roman „Ein ganzes Leben“ oder auch aktuell Benedict Wells‘ „Vom Ende der Einsamkeit“ nicht ganz zu erklären. Im vorliegenden Roman „Am Rand“, der nur drei Monate nach seinem Erscheinen nun auch schon die zweite Auflage erlebt, wird dieses Leid sehr eindringlich eingefangen. Dieser Gerold Ebner führt in der Tat ein Leben, dem der Tod hinterherläuft, solange bis der Ich-Erzähler ihm endlich entgegenkommt. Mit der Erzählkonstruktion tue ich mich gleichwohl schwer. Der Ich-Erzähler hinterlässt einen Text, von dem er suggueriert, er sei in wenigen Stunden, nämlich während seines Aufenthalts auf dem Gipfel und als letzter Akt vor seinem Selbstmord verfasst worden. Das wirkt doch arg konstruiert. Ein solcher Text lässt sich in so wenigen Stunden nicht schreiben; ihm fehlt auch jede Eile oder sprachliches Gehetztsein, das dem Umstand geschuldet wäre, das am Ende das Tageslicht schwindet. So wirkt der Prozess des Aufschreibens doch künstlich; der Leser merkt, dass die Konstruktion nicht stimmt. Schade, auch wenn er durch das Erzählte berührt und entschädigt wird. Und ein Glück, dass sich das Verhältnis von Erzählung und Erzähltem dann doch nicht im HITOTSU egalisieren lässt.


Hans Platzgumer: Am Rand. Roman. – Wien: Paul Zsolnay Verlag 2016 (19,90 €)

Nachtrag

Hans Platzgumers Roman Am Rand wurde auf die Longlist für den Deutschen Buchpreis 2016 gesetzt.

Nachgelesenes

Eine weitere Besprechung des Romans findet man bei Mariki im Bücherwurmloch.

Onlinelesung des Autors aus dem Roman bei zehnseiten.de.

Buchtrailer zum Roman:

 

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