Odo Marquard: Endlichkeitsphilosophisches Über das Altern

Wenn es stimmt, dass der Altersdurchschnitt derjenigen, die Blogs lesen und regelmäßig verfolgen, sich deutlich unterhalb des bundesrepublikanischen Altersdurchschnitt bewegt, wenn man zudem den Managementstrategien erfolgreichen Bloggens folgen und seine Zielgruppe im Blick haben will, dann ist diese Artikel für die digitale Mülltonne. Denn wer aus dieser Zielgruppe beschäftigt sich schon mit dem Alter und dem Altern? Und das auch noch nicht einmal in Form von Ratgeberliteratur, sondern philosophisch. Doch das Schöne ist: Derlei Überlegungen sind völlig egal. Nicht einmal in erster Linie, weil sich dieser Blog, auch wenn er wahrgenommen und gelesen werden will, um diese Fragen nicht schert, sondern weil die Möglichkeit besteht, auf ein wunderbares kleines Buch hinzuweisen.

Das in der Reihe „Reclam Taschenbuch“ erschienene Bändchen versammelt Texte des Philosophen Odo Marquard (1928-2015) aus den Jahren 1983 bis 2006, ergänzt um ein Interview mit dem Herausgeber  Franz Josef Wetz aus dem Jahr 2013. Es sei einmal dahin gestellt, ob ich mir anmaßen kann, die philosophischen Grundtheoreme und Überzeugungen Odo Marquards angemessen zu skizzieren; es ist hier auch gar nicht nötig. Nur so viel: Marquards Denken kreist um die Unhintergehbarkeit der Endlichkeit, die uns anthropologisch eingeschrieben sei. Daher rühre der Umstand, dass der Mensch bei aller Perspektive auf Zukünftiges auch immer an- und eingegebunden ist in Traditionen, Konventionen, Bewahrtes und zu Bewahrendes. Vor diesem Hintergrund führe der Mensch stets ein „temporales Doppelleben“, einerseits zur Schnelligkeit gezwungen angesichts der eigenen Lebenskürze, andererseits zur Langsamkeit hin orientiert, um dem unausweichlichen Ende nicht so schnell entgegenzugehen. Dieser Ansatz macht Marquard immun gegen jede Form von Utopie und zeigt ihn als – im guten Wortsinne – konservativen Denker. Seine ‚Endlichkeitsphilosophie‘ schärft den Blick auf die Fragen der Alters und den Umgang damit – und das umso stärker je mehr man sich selbst dem Alter nähert oder, wie in den jüngenren Texten des Bandes, selbst alt ist.

Das könnte zu durchaus bedrückenden und resignativen Überlegungen und Einsichten führen, doch das gerade tut es bei Odo Marquard überhaupt nicht. Sieht man von dem abgedruckten Interview ab, das wohl gut ein Jahr von Marquards Tod geführt wurde, so sind doch alle Texte von einer ebenso desillusionierten wie unbekümmerten Nonchalance gegenüber dem Alter, die sich reflektierend einfindet in diesen Lebensabschnitt, sich aber nicht abfindet mit den Zurichtungen der Wirklichkeit. Durchzogen sind die Reflexionen von einem Humor als einer Haltung, die sich sehr bewusst der Tradition der Aufklärung und den ins 19. Jahrhundert zurückreichenden Traditionen bürgerlichen Philosophierens und literarischen Schreibens verpflichtet fühlt.

Ohnehin die Literatur! Mir ist – vielleicht neben Ernst Bloch, der eine ganz andere philsophische Traditionslinie vertritt, und noch vor Hans Blumenberg – kein deutschsprachiger Philosoph aus dem 20. Jahrundert bekannt, der so literarisch philosophiert wie Odo Marquard. (Auch Wittgenstein nicht.) Er ist nicht nur als Kenner der deutschen Literatur ausgewiesen, seine Texte sind selbst von literarischer Qualität oder bewegen sich zumindest stets am Rande der Literatur. Sie zu lesen, ist ein Genuss. Wenn Montaigne meinte, Philosophieren heiße Sterben lernen, so kann man an der Lektüre der Texte Marquards das Leben als Weg zum Altern lernen; dieser Ansatz widerspricht dem Gedanken Montaignes nicht, macht ihn aber aushaltbar. Dieser kleine Band mit einigen zentralen Essays weist einen Weg.


Odo Marquard: Endlichkeitsphilosophisches. Über das Altern. Herausgegeben von Franz Josef Wetz. – Stuttgart: Reclam Verlag 2013 ( 8.95 €)

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