„Am Anfang war eine Landschaft.“
So begann die Novelle Der fremde Freund, die 1982 Christoph Hein zum literarischen Durchbruch verhalf. So könnte auch sein neuer Roman Glückskind mit Vater beginnen. Denn auch hier betritt der Leser gemeinsam mit einem Ich-Erzähler ein durch Menschenhand geformtes Naturareal, ein aufgeforstetes Birkenwäldchen, das wiederum vollkommen umschlossen ist von einem alten, „groß und übermächtig“ erscheinenden Mischwald. Dieser alte Waldbestand erfüllt eine doppelte Funktion. Er verbirgt etwas vor der Außenwelt, aber er macht das, was er verbirgt, zugleich kenntlich. Das Birkenwäldchen passt nicht in das Ensemble des übrigen Waldes. Dorthin zieht es den Ich-Erzähler, man weiß nicht, warum. Der Leser erfährt zunächst nur, dass es dort einmal einen größeren Gebäudekomplex gegeben haben muss, der vor einiger Zeit dem Erdboden gleich gemacht wurde und der Birkenaufforstung gewichen ist. Hier kommt es zu einer surrealen, wie eine Traumsequenz anmutenden Begegnung des Ich-Erzählers mit einem merkwürdigen Mann. Der stolziert, den Ich-Erzähler nicht bemerkend, in einer weißen Ausgehuniform gekleidet und ausgestattet mit einer schwarzen Ledergerte durch diese Aufforstung und köpft die jungen Birken. Hier bricht die Schilderung ab und springt voran in den Abend, als der Ich-Erzähler zuhause von Fieber und Schüttelfrost geplagt von seiner Mutter mit Wadenwickeln gepflegt und umsorgt wird. Ahnungen und Andeutungen werden zur Gewissheit: hier handelt es sich um einen Heranwachsenden, der erzählt. Mehr weiß man nicht bis hierher über die Figur, über die Zusammenhänge, über die Zeit.
Doch das erschließt sich im Laufe dieses umfangreichen Romans, in dem dieses Birkenwäldchen immer wieder als Leitmotiv in den Blick gerückt wird. In dem Wäldchen entstand gegen Ende des Zweiten Weltkriegs ein KZ für Kriegsgefangene, die in dem nahen Vulkano-Werk arbeiten sollten, wobei arbeiten hieß: ausgebeutet werden bis zum Tode. Dieses Werk war der größte Arbeitgeber der Umgebung, kriegswichtig. Sein Besitzer war … der Vater des Ich-Erzählers. Geboren wenige Tage nach Kriegsende, hat er seinen Vater nie kennengelernt. Denn der war nicht nur ein Kollaborateur der Nazis, er war selbst als führendes und befehlshabendes Mitglied der SS an und hinter der Ostfront unmittelbar an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen, am Ende des Krieges aufgegriffen, verurteilt und hingerichtet worden.
Von all den Machenschaften, Verstrickungen und Verbrechen weiß dessen Frau nichts, als die Russen die Stadt und das Werk besetzen. Ihre Schwangerschaft bewahrt sie davor, verhaftet zu werden. So wird ihr noch ungeborener Sohn für sie zu ihrem „Glückskind“. Sie kann mit ihren beiden Söhnen zusammenbleiben und in dem Städtchen ein schmales Auskommen behalten. Der soziale Abstieg von der reichen und angesehenen Fabrikantenehefrau zur Witwe eines Kriegsverbrechers ist zwar enorm, aber sie nimmt dieses Schicksal an. Ihre entschiedene Ablehnung dessen, was ihr Mann zu verantworten hatte, zeigt sie dadurch, dass sie ihren Mädchennamen wieder annimmt. Nützen wird es nichts.
Die Kleinstadt, in der der Roman in weiten Teilen angesiedelt ist, ist den Lesern Christoph Heins bekannt. Sie wird hier als G. bezeichnet, ist aber unschwer als das fiktive sächsische Guldenberg auszumachen, das schon in Heins Romans Horns Ende (1985) und Landnahme (1994) eine wenig rühmliche Rolle spielte. Wie aber lebt es sich in einer Kleinstadt der DDR, wie in der DDR überhaupt als Sohn eines NS-Kriegsverbrechers? Wie kann man umgehen mit der Geschichte, die der Vater den Nachkommen aufgebürdet hat? Wie kann man sich von diesem Makel befreien? Nach dem Lesen des Romans kann man diese Fragen lapidar beantworten: Gar nicht! Genau das ist aber sein Thema.
Christoph Hein benötigt einen langen, aber keineswegs langweiligen Anlauf. Dem kurzen, aus der Perspektive eines Ich-Erzählers geschilderten Eingangskapitel aus dem Birkenwäldchen folgt eine knapp 30-seitige Passage, in dem ein auktorialer Erzähler einen pensionierten Schulleiter vorstellt, Konstantin Boggosch. Er schickt ihn in eine Reihe von Gesprächssituationen, die in Genauigkeit und Tonfall in ihren besten Passagen an die grandiose Dialogtechnik eines Theodor Fontane erinnern. Hein versteht es hier in besonderem Maße, im Beiläufigen Untergründiges aufscheinen zu lassen. Reminiszenzen an den großen Vorgänger findet man auch in inhaltlichen Bezügen, etwa im Umstand, dass die Ehefrau des Protagonisten Marianne kurz vor ihrer Abreise zur Kur in den Harz steht.
Zwei Ereignisse prägen die letzten Tage des Ehepaars, bevor Marianne zur Linderung ihrer Gebrechen und Beschwerden zur Kur aufbricht. Da ist zum einen das Anliegen der örtlichen Tageszeitung anlässlich des Jubiläums des Gymnasiums ein Portrait der ehemaligen Schulleiter zu veröffentlichen, ein Ansinnen, dem sich Boggosch hartnäckig verweigert, ohne dass man auch hier zunächst erfährt, aus welchen Gründen heraus er sich so verhält. Und das zweite ist ein Brief des Finanzamts, genauer der Kirchensteuerfahndung, die nach einem Konstantin Müller sucht. Es ist die Beharrlichkeit seiner Frau, die Konstantin Boggosch zwingt, sich mit dem Schreiben auseinanderzusetzen, das er selbst am liebsten ignorieren würde.
Du willst nicht über dich reden. Du warst immer der große Schweiger. Und jedes Wort hast du auf die Goldwaage gelegt, aber auch jedes. Wenn ich mich mal vertan habe, hast du mich sofort korrigiert. Ein Lehrer, wie er im Buche steht. Nur über dich selbst kein Wort, nichts über deine Gefühle, dein Befinden. Selbst deine Familiengeschichte hast du mir nur häppchenweise erzählt, und eigentlich weiß ich nichts von dir.
Plötzlich legte sie Gabel und Löffel auf dem Teller ab und sah ihn an.
Alles auf die Goldwaage. Ja, das machst du, sagte sie, und da fällt mir doch auf, was du vorhin gesagt hast. Seit du denken kannst, hast du gesagt, seit du denken kannst, heißt du Boggosch. Daran habe ich mich vorhin schon gestoßen. Seit du denken kannst? Warum hast du nicht gesagt, seit du lebst? Oder seit der Geburt? Warum hast du diese merkwürdige Formulierung gebraucht? Du hast etwas mit diesem Müller zu tun, den sie suchen.
Mit dem Müller habe ich nichts zu tun, nichts, nichts, nichts! Meinen Vater habe ich nicht kennengelernt, und meine Mutter heißt Boggosch. Mehr ist dazu nicht zu sagen, und das weißt du alles längst. Dieser Brief ist ein Irrtum vom Amt, das wird sich klären lassen. Was soll das, Marianne? Was kümmern dich plötzlich diese alten Familiengeschichten? Mich haben sie nie interessiert. Ich bin mit vierzehn Jahren von daheim abgehauen, das weißt du. Die Mutter ist tot, den Vater gab es nie und mit dem Bruder habe ich keinerlei Verbindung. Wir haben uns als Kinder recht gut verstanden, später gar nicht mehr, und dabei ist es geblieben. Ich habe keine Ahnung, was er treibt, ich weiß nicht einmal, ob er noch lebt. Und mit der Kirche, um das noch einmal zu sagen, hatte ich nie etwas zu tun. Bist du nun zufrieden?
Diese kurze Gesprächspassage enthält die Geschichte, die erzählt wird, in nuce. Aber fortan nicht auktorial. Schon am Ende dieses Kapitels, als Marianne aufbricht in den Harz. wechselt die Erzählfigur wieder.
Ich verschloss hinter meiner Frau die Wagentür und schaute ihr nach, als sie abfuhr. Ich winkte, solange das Auto zu sehen war, und sagte halblaut vor mich hin: Nein, Marianne, ich habe nichts zu sagen. Ich habe dem kleinen Mädchen nichts zu sagen und dir auch nicht. Es gibt einfach nichts in meinem Leben, was sich zu erzählen lohnt. Gar nichts.
Was zu erzählen nicht lohnt, breitet Christoph Hein dann, vermittelt durch den Ich-Erzähler Konstantin Boggosch, über rund weitere 480 Seiten aus. Das Nichterzählenswerte erweist sich im Gegenteil aber als ausgesprochen erzählenswert! Von früh auf gerät der Junge in eine Art Sippenhaft für die Verbrechen des Vaters. Obwohl ein hervorragender Schüler wird ihm der Wechsel auf die Oberschule verweigert. Als nur Vierzehnjähirger verlässt er 1959 das Land und schlägt sich bis Marseille durch, um dort, so sein Wunsch, der Fremdenlegion beizutreten. Dieser Plan scheitert. Aufgrund seiner Sprachenbegabung, die er seiner Mutter zu verdanken hat – er spricht Englisch, Französisch, Italienisch und Russisch -, kommt er in Kontakt mit ehemaligen Resistancekämpfern. Als er befürchtet, man könne ihn aufgrund eines Fotos in einem Bildband als Sohn des Kriegsverbrechers Müller indentifizieren, verlässt er seine Mentoren wieder und kehrt justament an dem Tag in die DDR zurück, als die Mauer gebaut wird. Eine kurze Zeit lang lebt er wieder bei seiner Mutter und seinem Bruder, verlässt sie aber rasch wieder, um auf eigenen Beinen zu stehen. Ihm gelingt es, in Madgeburg im Rahmen von Abendkursen den Oberschlussabschluss nachzuholen. Sein Versuch, an der Filmhochschule zu studieren, scheitert, obwohl er schon eine Zusage hatte. Denn seine Akte weist ihn als Sohn eines Kriegsverbrechers aus, dem man den Zugang zum gewünschten Studium verweigert. Wegen des eklatanten Lehrermangels bekommt er an der Pädagogischen Hochschule einen Studienplatz und wird Lehrer. Früh hat er sich verliebt, heiratet und verliert Frau und Tochter auf tragische Weise im Kindbett. Fortan geht er seinen Weg, wird zumindest zeitweise Schulleiter, aber wegen politischer Ränkespiele auch wieder abgesetzt. Diese Farce setzt sich auch nach dem Zusammenbruch der DDR und der Wiedervereinigung fort, die die einstigen Mitläufer wieder nach oben spült. Das soll als knappe, zwangsläufig unzulänglich bleibende Inhaltssizze genügen. Was stets bleibt, ist der Eindruck, Konstantin Boggosch könne seinen Vater nicht los werden.
Man kann das eine oder andere gegen den Roman einwenden. Die Reife des Vierzehnjährigen, der alleine die DDR verlässt, ist nicht immer glaubwürdig, einige Figuren wirken holzschnittartig, einzelne Handlungselemente sind arg konstruiert. Dass die Hauptfigur nach seiner Rückkehr aus Marseille just am Tag des Mauerbaus über Berlin wieder in die DDR einreist, ist durchaus eine spitzfindige Ironie. Dass aber am gleichen Tag sein Bruder vergeblich versucht, ebenfalls über Berlin die DDR zu verlassen, um zum Onkel, dem Bruder des Vaters, nach München zu ziehen, ist dann doch des Guten zuviel. Am meisten aber verstört diese Erinnerungsgewissheit des Ich-Erzählers. Nur ein einziges Mal (S. 213) stellt er seine eigene Erinnerung in Frage, und das auch nur in einem Zusammenhang, der letztlich wenig Tragweite besitzt. Ansonsten verfügt er über eine scheinbar ungetrübte und ungebrochene Erinnerung.
Eigen ist Konstatin Boggosch auch die ausgesprochene Äquidistanz zu allen Ereignissen und Schicksalsschlägen, die ihn ereilen. Doch das ist keine Schwäche der Romankonstruktion, im Gegenteil. Die stete Distanz zum Erzählten ist Teil seiner Panzerung, seiner inneren Abwehrstrategie gegen all das, was ihn bedrängt. Es gibt nur ein Ventil nach außen, und das ist das Erzählen dieser Geschichte. Hein gelingt es hier wie in seinen besten Prosastücken gerade in der ausgestellten Nüchternheit, diesem, ja schon im wörtlichen Sinne Gleichmut die Zerrissenheit seiner Hauptfigur dem Leser nahezubringen und letzteren in einen wahren Lesesog hineinzuziehen, der über die knapp 530 Seiten trägt. Er erweist sich dabei wieder einmal als hellsichtiger Chronist der Zeitläufe und entfaltet ein Panorama, das wie keines seiner Werke vorher so umfassend die deutsche Geschichte seit 1945 in den Blick nimmt wie hier in Glückskind mit Vater.
Christoph Hein: Glückskind mit Vater. Roman. – Berlin. Suhrkamp Verlag 2016 (22,95 €)
Vorgelesenes und Nachlesen
Auf Youtube findet man eine Lesung Christoph Heins aus seinem Roman.
Eine schöne Vorstellung des Romans findet sich auf Contanze Matthes‘ Blog Zeichen und Zeiten. Weitere Buchbesprechungen bei Poesierausch, aus.gelesen und literaturleuchtet.
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