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Peter Richter: 89/90

Der Titel des Romans verweist lapidar auf das, worum es geht: grob gesagt um die letzten beiden Jahren der DDR zwischen Siechtum und Auflösung. Aha, so könnte man meinen, ein weiterer „Wenderoman“ oder zumindest einer, von dem man annimmt, man könne ihm mit dieser Kategorisierung beikommen. Nein, in eine Reihe von Romanen wie Eugen Ruges „In Zeiten des abnehmenden Lichts“, Lutz Seilers „Kruso“ oder Uwe Tellkamps“ Der Turm“ verbindet ihn zwar der äußerliche Umstand der alljährlichen Inszenierungen um die Frankfurter Buchpreisverleihung, denn 89/90 stand für 2015 immerhin auf der Longlist für den Preis. Dresden als der zentrale Ort, um den sich die Erzählhandlung entfaltet, lässt auch durchaus eine gewisse Nähe zu Tellkamps Roman entstehen. Aber das Sujet ist ein anderes. In „Kruso“ findet die Wende eigentlich nur im Radio statt; zu weit ist Hiddensse in den Tagen des Zusammenbruchs der DDR von den Ereignissen entfernt. Eugen Ruge und Uwe Tellkamp erzählen die Wende als Familiengeschichte und greifen deutlich in die Historie aus, um den Verfall und Zusammenbruch des Staates DDR literarisch zu beleuchten. Peter Richters Roman spielt weder an der Peripherie, noch greift er weit aus. Ganz im Gegenteil: er konzentriert sich auf den Zeitraum vom Frühjahr 1989 bis zum Jahresende 1990, und das weitgehend ohne Rückblenden in die Vergangenheit. Und vor allen Dingen: er ist mittendrin im Umbruch. Der Ich-Erzähler ist Teilnehmer an den Montagsdemonstrationen, er ist Augenzeuge von Kohls erstem Besuch in Dresden nach dem Fall der Mauer und dessen Rede vor der Dresdner Frauenkirche am 19.12.1989, er nimmt die Veränderungen des Alltags mit seinen konkreten Konsequenzen sensibel wahr. Vor allem aber: Er ist sechzehn, im Laufe des Handlung schließlich siebzehn Jahre alt; er ist Schüler, der zu Beginn noch um seine Zulassung zur EOS fürchten muss, der Erweiterten Oberschule, die ihm das Abitur ermöglichen würde; und er ist schließlich Teil der Alternativ- und Punkszene in Dresden, deren Konflikte mit rechtsradikalen Gruppierungen immer mehr eskalieren.

Wie viel persönliche Erfahrungen des Autors eingeflossen sind, der selbst aus Dresden stammt und im Wendejahr so alt war wie sein Protagonist, ist müßig zu untersuchen. Es macht den Roman weder besser noch schlechter. Der Roman beeindruckt jedenfalls im Hinblick sowohl auf die Erinnerungsarbeit wie auf die Rechercheleistung, die ihm zugrunde liegt. Im ersten, sich mit dem Jahr 1989 auseinandersetzenden Teil erinnert 89/90 am ehesten an Thomas Brussigs „Am kürzeren Ende der Sonnenallee“. Beide verbindet die schelmenhaft entfaltete Adoleszenzthematik, aus der heraus der Alltag der Jugendlichen geschildert und zumindest punktuell fast bis zur Persiflage karikiert wird. Richters Hauptfigur zeichnet sich durch einen ironischen, auch selbstironischen und witzig entlarvenden Blick auf den ganz privaten und schulischen Alltag aus. Dabei erzählt der (wenn ich nichts übersehen habe) bis zum Ende namenlos bleibende Ich-Erzähler rückblickend im Wissen um den Zusammenbruch des Systems, in dem er sich bewegte. Er gehört zum Beispiel zum letzten Jahrgang, der ein ein Wehrlager besuchte. Das Wissen um diese Letztmaligkeit führt zu einer Art der Schilderung, die das Groteske solch paramilitärischen Ausbildung deutlich hervortreten lässt. Vergleichbares gilt für die Schilderung der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der Gründung der DDR. Das ist ebenso vergnüglich zu lesen wie die verbotenen nächtlichen Besuche im Freibad, bei denen man auch Kontakte zum weiblichen Geschlecht knüpfen konnte. Großartig ist die Schilderung von Kohls Auftritt in Dresden, in der dokumentarische Genauigkeit mit weit reichender wörtlicher Wiedergabe der Rede durchkreuzt wird von der unmittelbaren Erlebnis- und Kommentarebene des Sechzehnjährigen, der sich und seine Freunde, die am Rande des Platzes stehen, umstellt sieht von gewaltbereiten Rechtsradikalen. Da herrscht keine selbsttrunkene Einheitsvorfreude, da herrscht Randalestimmung.

Diese Stimmung, diese stets latente und immer öfter offen ausgetragene Gewaltbereitschaft prägen den zweiten Teil des Romans und die Schilderungen aus dem Jahr 1990. Die Zeit zwischen Mauerfall und staatlichem Zusammenschluss erscheint in der Retrospektive des Jugendlichen als Aneinanderreihung von Zusammenstößen zwischen Punks und Rechtsradikalen im Sog der erodierenden staatlichen Ordnung. Dabei geht es um den Kampf um Vormachtsstellung in ganzen Stadtteilen von Dresden, der in Szenen eingefangen wird, die mit „Sonnenallee“ gar nichts mehr, mit Götterdämmerung aber recht viel zu tun haben. Beim Lesen gewinnt man den zunehmend bedrohlich wirkenden Eindruck von Anarchie und Bürgerkrieg. Die Ausbrüche von Gewalt erschrecken nicht nur, sie verstören – und sie lassen erahnen, woher es kommt, dass 25 Jahre nach der Wiedervereinigung gerade in weiten Teilen der Bevölkerung im sächsischen Umfeld nazistisches und fremdenfeindliches Denken eine etablierte Größe zu sein scheint.

In dieser Situation entgleitet dem Ich-Erzähler auch sein jugendlich-scharfer Blick auf die gesellschaftlichen Phänomene um ihn herum. Er wird viel stärker als zuvor zu einem Rädchen und Mitläufer, der die Ereignisse additiv aneinander reiht. Einige Male wird er brutal krankenhausreif geschlagen; das nimmt er klag- und kommentarlos hin. Dabei bebildert er die Straßenkämpfe wie letztlich politisch harmlose Auseinandersetzungen zwischen Straßengangs. Immer deutlicher wird, dass ihn der Durchblick mit dem Fall der Mauer weitgehend abhanden kommt. Keine Rolle spielen in dieser Zeit auch die Eltern des Protagonisten; sie markieren ohnehin eine große Leerstelle im ganzen Roman. Aber dass sie auf die immer brutaleren Übergriffe, in denen ihr Sohn verwickelt ist, offensichtlich überhaupt nicht reagieren, befremdet ebenso wie der Umstand, dass dieses Verhalten dem Ich-Erzähler keine Erwähnung wert zu sein scheint.

Darin aber manifestiert sich auch ein gestalterisches Problem des zweiten Romanteils. Dem Ich-Erzähler gelingt es nicht mehr, die Distanz zum Geschehen aufzubauen, die es braucht, um die Verhältnisse lachend oder mit spöttischem Grinsen zu entlarven. Das Existenzielle verstellt die Kritik. Daran ändert auch nichts der Umstand, dass der Roman durchgängig mit Fußnoten versehen ist, die den dokumentarischen Gehalt bezeugen oder das Gesagte zusätzlich kommentieren sollen. Dieses Verfahren bringt wenig und stört nicht selten nur den Lesefluss. Die Figuren durchgängig mit Kürzeln zu bezeichnen – da gibt es einen S., einen W., eine L. usw. -, stört nicht nur, auf Dauer nervt es.

Von diesen Schwächen abgesehen gelingt es Peter Richter insgesamt schon, ein Panorama der Wendezeit literarisch aufzubereiten, das von der Trunkenheit der Wiedervereinigung wenig übrig lässt, aber die Dünnbödigkeit dieses politischen Prozesses verstörend deutlich zu machen versteht.


Peter Richter: 89/90. Roman. – München: Luchterhand Literaturverlag 2015 (19,99 €)