Das Autorenfoto auf der Rückenklappe des Buchumschlags macht keinen Hehl aus seiner nachträglichen Bearbeitung. Man sieht Peter Stamm an einem Caféhaustisch sitzen in dem Moment, in dem er sich erheben möchte. Die Bildebene wurde offensichtlich verdoppelt und die zweite leicht nach links versetzt. Dadurch entsteht der Eindruck, als würde ein Doppelgänger Stamms, der gleichzeitig sein Schatten ist, ihm in der Bewegung folgen. Mehr aber als dass das Bild mit der Identität des Autors postmodern zu spielen scheint, verweist es auf etwas Verstörendes, ja Unheimliches, das sich in dieses Foto als vermeintliches Abbild von Wirklichkeit einzuschreiben anschickt.
Dieser Umstand ist geradezu programmatisch für Peter Stamms elf neue Erzählungen in Wenn es dunkel wird. Nach drei Romanen in Folge – Nacht ist der Tag (2014), Weit über das Land (2016), Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt (2018) -, den unter dem Titel Vertreibung aus dem Paradies veröffentlichten Bamberger Poetikvorlesungen (2014) und der „Weihnachtserzählung“ Marcia in Vermont im letzten Jahr hat er sich jetzt wieder den kürzeren Erzählformen zugewandt, die allerdings schon immer zu seinem Oeuvre gehörten. Und zwar genuin, und nicht nur als Nebenwerke. Vom Sujet her erkennen wir aber eine deutlich stärkere Anbindung an die jüngeren Romane als an zurückliegende Kurzprosatexte, und zwar deshalb, weil ihnen das Verrutschen von Wirklichkeit ins Unheimliche viel stärker eingeschrieben ist als den Erzählungen zurückliegender Jahre.
Dabei begegnen wir einer Reihe unterschiedlicher Figuren in (und aus) ebenso unterschiedlichen Milieus: unter anderem einem jungen Mann, der aus einer kindlichen Kränkung heraus, jetzt plant, eine Bank zu überfallen; einer Krankenschwester, einer Sekretärin, einem Familienvater, einem Angestellten kurz vor seiner Verrentung, einem pensionierten Arzt, einem Anwalt. Letzterer verbarrikadiert sich, nachdem er sich verspekuliert und sein gesamtes Vermögen verloren hat, in einem Hotelzimmer, schaut auf den Zürichsee, liest „Robinson Crusoe“ und wähnt sich gleich der Romanfigur allein auf einer einsamen Insel. „Schiffbruch“ heißt diese Erzählung, und wie Schiffbrüchige erscheinen der Leserin und dem Leser nahezu alle Figuren. Ihnen bricht das Gewohnte weg – sei es aufgrund von Zufällen, sei es aufgrund eigener Entscheidungen – und verschiebt die eigene Wirklichkeit ins Surreale oder gar vollkommen Unwirkliche.
In besonderer Weise eindrücklich erzählt Peter Stamm eine solche Entwicklung in „Sabrina, 2019“. Wir begegnen der gleichnamigen Hauptfigur auf einer Vernissage, bei der eine Aluminium-Skulptur vorgestellt wird, für die sie selbst Modell geworden war. Über den Künstler erfährt man nicht sehr viel mehr, als dass er Hubert heißt und sein Arbeitsschwerpunkt darauf liegt, Durchschnittsmenschen in seinen Objekten zu modellieren. So wurde er auch auf die Krankenschwester aufmerksam und konnte ihr Interesse für sein Projekt gewinnen, obwohl sie selbst überhaupt keinen Bezug zur Kunst, „keine Ahnung hatte von Kunst“. In der Konfrontation mit dem künstlerischen Entwurf ihrer selbst ändert sich jedoch Sabrinas Verhaltung und Haltung. Das führt zu auffallenden Wandlungen. Denn sie kommt von der Skulptur, die es in zweifacher Ausfertigung gibt, nicht mehr los, besucht fortan täglich die Ausstellung, vergleicht sich mit ihr, besucht, nachdem die Ausstellung beendet ist, schließlich denKäufer zuhause, um der Skulptur nahe bleiben zu können, und wandelt sich immer mehr. Wie weit, bleibt am Ende offen, und ist zugleich offensichtlich.
Hier setzt die Kritik an dieser wie an sehr vielen der neuen Erzählungen Peter Stamms an. Ihr Ende ist allzu oft allzu erwartbar und kommt zudem zu schnell. Hier in „Sabrina, 2019“ wird die Handlung ruhig und sorgfältig entwickelt, dann aber auf knapp zwei Druckseiten geradezu an ihr Ende getrieben, beinahe so, als habe dieser Teil der Erzählung die Entwurfsfassung kaum verlassen. Stamms Erzählkunst gleitet hier ab ins bloß Artifizielle.
Das gilt auch für andere Texte. So reduziert sich in „Die Frau im grünen Mantel“ die Ankunft eines pensionierten Arztes in dem Krankenhaus, in dem er vor nicht allzu langer Zeit noch selbst tätig war und wo ihm jetzt eine offensichtlich schwere Operation bevorsteht, auf den bloßen Erzählrahmen für rückblendende Erinnerungen an eine merkwürdige Arzt-Patientinnen-Beziehung. Die Doppelgängerin dieser Frau, die er bei seiner Ankunft um Hospital wahrzunehmen glaubt und schließlich durch Krankenhausflure verfolgt, ist nichts anderes als Erzähleffekt. Was Peter Stamm mit derlei Konstruktion (zu) oft verschenkt, ist die Wirkung des Erzählten.
Man könnte dergleichen für nahezu jede der hier versammelten Erzählungen vermerken. Nein, der Klappentext mag sich noch so anstrengen, Gegenteiliges zu behaupten, die Geschichten, die hier vorliegen, berühren nicht wirklich, weder im Hinblick auf die offengelegte „Brüchigkeit der Welt“, noch in den Anklängen an Gespenstisches. Die Fremdheit der Welt, die dem vermeintlich Vertrauten doch so nah ist, sie erscheint dem Leser nicht fremd, sondern gleichgültig.
Peter Stamm: Wenn es dunkel wird. Erzählungen. – Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2020