Robert Seethaler: Der letzte Satz

Seethaler, Der letzte Satz

„Es ist schön“, sagte Mahler. „Man müsste es nur zu fassen kriegen.“

I

Spätestens mit Seethalers letztem Roman Das Feld (2018) war dem Leser seiner Texte klar, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod ein zentrales Moment seines Erzählens ist.

Während der Lektüre lange Zeit der Gedanke, nichts über Der letzte Satz schreiben zu können, weil dazu nichts einfällt.

Dann: Wie schreiben über einen Roman, zu dem nichts Rechtes einfallen will?

Zu wenig Ahnung von Musik, zu wenig Kenntnis über Gustav Mahler, zu wenig letztlich Interesse an seiner Musik, an seinem Leben.

Schließlich das letzte Kapitel und dann doch der erste Satz.

II

Spätestens mit Seethalers letztem Roman Das Feld (2018) war dem Leser seiner Texte klar, dass die Auseinandersetzung mit dem Tod ein zentrales Moment seines Erzählens ist. Hier aber in Der letzte Satz erzählen keine Totenstimmen aus ihrem Leben, hier denkt ein dem Tod Geweihter über sein Leben nach. Der berühmte, zu seiner Zeit vielleicht berühmteste Komponist Gustav Mahler befindet sich auf seiner letzten Schiffsreise von New York nach Europa im Februar oder März 1911. Er ist erkrankt an einer nicht mehr heilbaren bakteriellen Herzentzündung, an die er wenige Monate später in Wien versterben wird. Der Ort, von dem aus fast die ganze Zeit über erzählt wird, ist das Sonnendeck des Transatlantikdampfers „Amerika“, eines der größten und luxuriösesten Personentransportschiffe, die vor dem 1. Weltkrieg zwischen der Ostküste der Vereinigten Staaten und Europa verkehrten. Auf dem Sonnendeck ist es windig und kalt, der Jahreszeit entsprechend. Die Decken und Kissen, mit denen der berühmte Passagier ausgestattet wurde, um sich, von allen anderen Passagieren abgeschirmt, dort aufhalten zu können, helfen wenig. Der einzige, mit dem Mahler spricht, ist der Schiffsjunge, der abgeordnet worden war, sich um ihn zu kümmern, ihn zu bewirten. Ansonsten sitzt der Todkranke, der sich seines nahenden Endes bewusst ist, dort achtern und blickt zurück auf sein Leben, auf seine beiden Kinder, den Tod des einen Mädchens, seine Liebe zu seiner Frau Alma, seinen künstlerischen Werdegang, seine Musik.

Das hört sich insgesamt ziemlich langweilig an – und ist es wohl auch für all jene zumindest, die kein Interesse finden am Leben des Musikers. Seethaler erzählt sprachlich gewohnt souverän, gewohnt zurückhaltend, vieles eher andeutend als ausfabelnd. Aber das kompensiert nicht die beharrlich nicht schwinden wollende Gleichgültigkeit gegenüber dem Erzählten, gegenüber der Figur Gustav Mahler. Dem kommerziellen Erfolg des Buches tut das keinen Abbruch; die Erwartungen, es möge zum Megaseller der diesjährigen Herbstsaison avancieren, haben sich längst erfüllt. Die durchweg kritische Resonanz, die der Roman, so zumindest bezeichnet der Verlag den rund 125 Seiten langen Erzähltext, erfuhr, hatte darauf gar keinen Einfluss. Hauptsache, er fand Aufmerksamkeit. Aber alles andere hätte ohnehin überrascht.

Egal, auf welchen Kanälen die Stellungnahmen der Literaturkritik veröffentlicht wurden, waren sie doch nahezu unisono distanziert bis ablehnend. Die Reaktionen lassen sich als eine Aneinanderreihung des Adverbs „zu“ beschreiben: zu kurz, zu oberflächlich, zu langweilig, zu kitschig, zu trivial … Vieles davon ist nachvollziehbar. Im Roman – auch wenn sich etwas sperrt, bleiben wir doch der Einfachheit halber bei dieser Bezeichnung – erfährt der Leser sicher etwas über Mahlers Leben. Zentrale Ereignisse werden in erinnernden Rückblenden vergegenwärtigt, literarisch verdichtet, aber nie auch nur in Ansätzen auserzählt. Letztlich bleibt auf der inhaltlich-biographischen Ebene kaum mehr als das, was man auch dem Wikipedia-Artikel über Gustav Mahler entnehmen kann. Auch dessen Musik bleibt weithin außen vor. Man erfährt eher anekdotenhaft etwas über Distributions- und Managementhintergründe als über künstlerische Zusammenhänge. Über seine Musik zu sprechen, verweigert Mahler geradezu. Als der Schiffsjunge ihn bittet, etwas über sein Schaffen zu erzählen, erwidert er: „Nein. Man kann über Musik nicht reden, es gibt keine Sprache dafür. Sobald Musik sich beschreiben lässt, ist sie schlecht.“ Der letzte Satz zeigt allerdings zugleich, dass das Unausgesprochene im Umkehrschluss nicht zwangsläufig zum künstlerischen Gelingen führt.

Gleichwohl täte man dem Erzähltext Unrecht, würde man das Buch mit den Eindrücken des völlig Misslungenen schließlich beiseitelegen. Denn es gibt mindestens zwei Aspekte, die trotz allem nachdenkenswert bleiben. Da ist zum einen die Frage, worauf der Titel eigentlich anspielt, da ist zum anderen das letzte Kapitel.

Mag sein, dass sich dem Mahler-Kenner Zusammenhänge zum Titel erschließen über den letzten Satz der letztvollendeten 9. Symphonie, die durch die musikalische Bearbeitung von Abschiedsvorstellungen geprägt ist. Für jene, die beim Erzähltext bleiben wollen, ergeben sich zwei andere Aspekte. Mahlers letzter Satz vor seinem Zusammenbruch auf dem Sonnendeck war: „Ich sollte noch ein bisschen bleiben“. Der letzte Satz des Romans jedoch ist ein Gedanke, den der Schiffsjunge kurz vor dem Einschlafen hat, mehr als ein halbes Jahr nach der Schiffsreise von New York nach Hamburg: „Und das …“, gemeint ist die erwartete Kühle und Helle des nächsten Tages, „Und das war gut, denn es war Zeit zu gehen.“

Während sich der todkranke Künstler ans Bleiben zu heften versucht, geht es bei dem vitalen jungen Mann um einen Aufbruch. Folgt man den Gesprächen, die der Schiffsjunge auf der Überfahrt mit Mahler führte, und die zweifelsohne die Kristallisationspunkte des kleinen Romans ausmachen, so ist die Perspektive des Jungen stimmig entwickelt und bewahrt den Text vor allzu sentimentaler Todeskoketterie.

Deshalb ist es auch das letzte Kapitel, das die Mahler-Perspektive durchbricht und sich ausschließlich dem Schiffsjungen zuwendet, welches dem Roman so etwas wie seine literarische Dignität bewahrt. Man sieht sich erinnert an die Figur des Franz Huchel aus Seethalers erstem Erfolgsroman Der Trafikant. Die gleiche charakterliche und intellektuelle Mischung aus Naivität und Hellsichtigkeit, die gleiche Entschlossenheit. Hier aber in Der letzte Satz bleibt das Ende offener, erscheint weniger aussichtslos. Wer den Schiffsjungen als die eigentliche Hauptfigur des Romans wahrnimmt, liest Seethalers jüngsten Roman dann vielleicht doch mit größerem Genuss und Gewinn und klappt das Buch am Ende mit geringerer Enttäuschung zu.


Robert Seethaler: Der letzte Satz. Roman. – München: Hanser Verlag 2020.

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