Norbert Scheuer: Am Grund des Universums

Wer von Kall aus zur Staumauer eines der Stauseen des Wasserbands Eifel-Rur fahren möchte, legt knapp zwanzig Kilometer zurück. So seenreich die Nordeifel aufgrund der Stauseen und Rückhaltebecken auch ist, in unmittelbarer Nähe von Kall sucht man ein solches Gewässer vergeblich. Zumindest in der Umgebung des real existierenden Eifelstädtchens findet sich nichts dergleichen. Im fiktiven Kall in Norbert Scheuers Roman Am Grund des Universums ist das anders. Hier wird so erzählt, dass der Eindruck entsteht, der Stausee liege ganz nah. Außerdem hat man weit reichende Pläne mit ihm. Er soll vergrößert werden, ein Ferienpark soll her, der Tourismus in der Region angekurbelt werden. Der See wird zu einem Spekulationsgegenstand und Investitionsprojekt, das am Ende, wie man recht schnell erwarten konnte, kläglich scheitert. Die Arbeiten an dessen Sanierung werden vom Erzähler sorgfältig registriert und von den „Grauköpfen“ aufmerksam begleitet.

Was es mit ihnen auf sich hat, stellen wir zunächst einmal hintan und bleiben bei einer für die Romane Norbert Scheuers wohl typischen Erzählkonstruktion. Kall ist und bleibt wie in Scheuers meisten literarischen Texten der magnetische Pol, um den er seine Geschichten ausrichtet. Aber so hoch für ortskundige Leser der Wiedererkennungswert im Realen auch sein mag, der literarische Kosmos, den der Autor entfaltet, geht nie darin auf; er lässt sich auf das Tatsächliche dieser Eifelregion nicht reduzieren. Das Mehr, welches auf diese Weise entsteht und das man durchaus poetisch nennen kann, beschränkt sich deshalb auch nicht auf Sozialkritisches, Gesellschaftskritisches oder Chronikales. Scheuers Romane, und Am Grund des Universums im Besonderen, legen immer etwas frei, von dem man nicht so recht weiß, ob man es abgründig oder metaphysisch nennen soll.

Dergleichen spiegelt sich auch schon im Titel des Romans. Das Universum hat keinen Grund, nichts, was es in unserer Vorstellung begrenzt. Kategorien wie „unten“ oder „oben“ greifen nicht. Wir assoziieren Ausdehnung, Unendlichkeit, jedenfalls nichts, wo man an ein Ende kommt und auf einen Grund stößt. Der Titel erscheint paradox, findet im Roman aber schnell einen konkreten Bezug. In der Eingangsepisode des Romans wird von einem Betriebselektriker namens Lünebach erzählt, der viele Jahre auf Montage war, aber irgendwann nach Kall zurückkehrt. Der Mann ist Frührentner und scheint mehr als am Körper am Geist versehrt zu sein. Denn er baut sich über Jahre hinweg eine Raumkapsel, die ihn „außerhalb von Raum und Zeit“ bringen sollte. Tatsächlich soll es vor Jahrzehnten, so erzählen die „Grauköpfe“ einen Start gegeben haben. Lünebach soll angeblich Zettel aus einem Bullauge des Raumschiffs geworfen haben, auf denen er festhielt, was er vom Urftland so alles sehe. Und auf einem dieser Zettel, so erfährt man nach knapp 100 Seiten nach der Ersterwähnung dieses skurilen Projekts, soll er „vom Grund des Universums“ geschwärmt haben.

Nimmt man die Perspektive dieses Ver-Rückten erzählerisch ernst – und innerhalb des Erzählkosmos gibt es eigentlich keinen Grund, das nicht zu tun -, so ist Kall und die Umgebung des Urftlandes selbst dieser „Grund des Universums“. Der ist vielfach sedimentiert. Hier kommen Geologisches und Geographisches, Geschichtliches und Gesellschaftliches ineinandergewirbelt zusammen und konkretisieren sich in einer Vielzahl von Geschichten und Schicksalen, die den Roman letztlich ausmachen.

Deren Epizentrum bilden dabei die „Grauköpfe“, eine Gruppe von Rentnern und Pensionären, die sich regelmäßig im Café des örtlichen Supermarkts treffen und sich dort über buchstäblich Gott und Welt (von Kall) austauschen. Zu den Anspielungen an mythische Strukturen, die im Erzählraum Kall vorzufinden sind, gehört in diesem Zusammenhang sicherlich auch der Umstand, dass die „Grauköpfe“ an einen Chor aus dem antiken Drama erinnern. Sie kündigen Ereignisse und Entwicklungen an, sie kommentieren Geschehnisse und bewerten sie. Was sie aber über archetypische Funktionen des antiken Chores hinaus unterscheidet, sind die handlungstragenden Impulse, die von den „Grauköpfen“ ausgehen. Sie halten nicht nur Geschichten fest, sie geben nicht nur ihre Ansichten dazu ab, sie stoßen sie bisweilen auch an.

Dabei kommt zahlreiches Kurioses zutage, wie etwa auch Vincentinis Wundermaschine „Perseus“, eine Art elektrisches Akupunkturgerät, mit dem man von Impotenz über Herzschwäche bis hin zu Depressionen alles behandeln kann. Hinter dem Kuriosen aber verbergen sich, und dennoch gut sichtbar, die Sehnsüchte, Hoffnungen und Ängste der Menschen, die Scheuers Erzählkosmos in den Blick nimmt. Deren Geschichten erschließen sich im Fortgang des Romans nur mit und mit und fordern den aufmerksamen Leser ein, der ansonsten den Faden verliert. Aber das macht den Roman nicht schwer; er bleibt eingängig. In ihm wird keine triviale Leichtigkeit vorgeführt, sondern letztlich doch eine, Spannungen nicht verdrängende Aufgehobenheit.

Dabei begegnen der Leserin oder dem Leser zu einem nicht geringen Teil Figuren, die aus vorherigen Romanen bekannt sind. Paul Arimond, den in Die Sprache der Vögel (2015) die Vogelkunde nach Afghanistan verschlug, kehrt schwer kriegsversehrt nach Kall zurück. Er freundet sich mit Nina an, einer Außenseiterin im Ort, die nicht lesen kann, aber schreiben. Ihr Großvater wiederum war die große, geheim gebliebene Liebe von Sophia Molitor, die, vom Leben durchaus und ihrem Sohn Raimund besonders gezeichnet, Nina als eine Art Enkelersatz annimmt. Bei aller Vielzahl der Einzelepisoden und Geschichten bilden deren Geschichten so etwas wie einen roten Faden innerhalb dieses Amalgams von Einzelschicksalen, die doch immer irgendwie an Kall gebunden bleiben.

Spätestens mit Am Grund des Universums hätte Norbert Scheuer, der mit seinen Romanen wieder und wieder auf diversen Shortlists auftaucht, einen der großen publikumswirksamen Literaturpreise verdient gehabt. Warum man sich bisher weder in Frankfurt, noch in Leipzig auf eine Verleihung hat verständigen können, ist schwer verständlich. Dass es Am Grund des Universums auch drei Jahre nach seinem Ersterscheinen noch immer nicht als Taschenbuch gibt, das ein breiteres Publikum erreichen könnte, erzeugt verständnisloses Kopfschütteln.


Norbert Scheuer: Am Grund des Universums. – München: C.H. Beck Verlag 2017.

Nachlese

Sehr schöne Besprechungen des Romans finden sich auf der Seite des Deutschlandfunks und im Blog Das graue Sofa.

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