Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder

Bücher, die über die Macht des Buches handeln, zumindest solche, die fiktionaler Art sind, finden nur in den allerseltensten Fällen mein Interesse. Ich erinnere mich an deutlich mehr Bücher, die ich nur aus Höflichkeit zu Ende gelesen habe oder las, weil alle sie lasen, oder – im Regelfall – schnell weggelegt habe, als an solche, die mir ein großes Lesevergnügen bereiteten. Selbst der Tintenherz-Trilogie von Cornelia Funke habe ich nichts abgewinnen können. Borges‘ Die Bibliothek von Babel und Ecos Im Namen der Rose bilden da eher die Ausnahme. Geschwollen und umgangssprachlich zugleich: Die bibliophile Apotheose des Bibliophilen geht mir ziemlich schnell auf den Keks.

Trotz einiger Ankündigungen, die bei Ingo Schulzes jüngstem Roman dergleichen befürchten ließen, ist mir eine solche Reaktion auf Die rechtschaffenen Mörder nicht widerfahren. Schaut man auf die Hauptfigur des Romans, den Antiquar Norbert Paulini, so könnte schon der Gedanke aufkommen, es handele sich in leichter Modifikation um einen Bibliothekarsroman, ein fast schon eigenständiges Genre, in dem sich der Protagonist oder die Protagonistin zum Sachwalter der Bücher macht. Ingo Schulze verhindert aber eine solche Perspektive eigentlich schon durch den allerersten Satz:

Im Dresdner Stadtteil Blasewitz lebte einst ein Antiquar, der wegen seiner Bücher, seiner Kenntnisse und seiner geringen Neigung, sich von den Erwartungen seiner Zeit beeindrucken zu lassen, einen unvergleichlichen Ruf genoss.

Sogleich entsteht das Bild von einem Mann, irgendwo zwischen Märchen und Michael Kohlhaas. Man bleibt – zumindest ist es mir so gegangen – ihm gegenüber irgendwie misstrauisch. Bei all seiner literarischen Bildung, die ihm geradezu konkret in die Wiege gelegt wird, bei all seiner bewundernswerten Belesenheit, seinem sachkundigen Umgang mit den Kunden seines Antiquariats bleibt er in seiner Schrulligkeit doch fremd. Sie hat selten etwas Sympathisches, sie wirkt meistens arrogant.

Ingo Schulze verfolgt die Geschichte dieses buchstäblich merkwürdigen (oder sollte man sagen „rechtschaffenen“?) Mannes von seiner Geburt bis über seinen Tod hinaus. Das tut er in, von ihrem jeweiligen Umfang her, sehr unterschiedlich langen Teilen. Der erste Teil umfasst knapp 200 Druckseiten. Dort entfaltet ein sich nur ganz verschwommen zu erkennen gebender Ich-Erzähler den Werdegang des Norbert Paulini, der mit dem Geld seiner verstorbenen Mutter in Dresden ein Antiquariat aufbaut, das sich in den 70er Jahren weit über die Stadtgrenzen hinaus, ja im ganzen Land unter Bücherliebhabern einen geradezu legendären Ruf erwirbt. Es wird zu einem Sammlungsort für Intellektuelle, bekommt geradezu etwas Dissidentisches, ohne dass Paulini selbst einen politischen Standpunkt beziehen würde. Es sei denn, man nehme die Ansicht, dass Literarisches absolut Vorrang habe vor allem Außerliterarischen, selbst als eine politische Haltung wahr. Gleichwohl ist sein Einfluss groß genug, dass die Staatssicherheit auf ihn aufmerksam wird. Die Frau, die Paulini heiratet, entpuppt sich nach der Wende als Inoffizielle Mitarbeiterin. Sie war das Ohr, das die Stasi installierte.

Paulinis Antiquariat floriert – bis zur Wende. Der Stellenwert des gedruckten Wortes nimmt in dem Maße ab, in dem es frei verfügbar wird und sich marktkapitalistischen Zwängen unterziehen muss. Paulini muss schließlich Insolvenz anmelden; seine mehrfachen Anläufe, das Antiquariat neu zu betreiben, stehen allesamt unter einem unglücklichen Stern.

Je schwieriger die Lage wird, desto eigentümlicher wird Paulinis Verhalten und Denkweise. Offensichtlich wird, dass der einst so bildungsbürgerlich-liberal scheinende Mann sich ideologisch immer mehr rechtskonservativen Strömungen anschließt und schließlich offen mit Pegida sympathisiert. In zur Sorge Anlass gebender Weise zeigt Ingo Schulze auf, wie klein doch die gedanklichen Schritte und Haltungsmodifikationen sein können, um ideologisch in ganz fragwürdige Fahrwasser zu geraten. Das kann man im Konkreten nachvollziehen. Dabei muss man nicht mal an Uwe Tellkamps Der Turm denken, zu dem es ohne Zweifel intertextuelle Bezüge gibt. Man muss sich nur einmal den Werdegang des Autors Tellkamp selbst vor Augen führen, um zu verstehen, wie nah Schulze mit seiner Figur an der Wirklichkeit ist.

Dieser vergleichsweise lange erste Teil entpuppt sich in der Folge als jener frgmentarische Text, den der Ich-Erzähler des rund 80 Seiten langen zweitens Teils Ingo Schultze (man beachte die Schreibweise des Namens!) verfasst hat. Darin reflektiert er seine Beziehung zu dem Antiquar, von dem er sich weniger aufgrund seiner politischen Ansichten zunehmend distanziert, sondern weil er die Ménage-à-trois mit seiner älteren Freundin immer weniger ertragen kann. Im dritten, nur noch rund 30 Seiten langen Teil berichtet die Lektorin schließlich vom Umgang mit Schultzes Manuskript und dem merkwürdigen Ende Norbert Paulinis.

So sehr man Ingo Schulzes Roman auch als eine kleine Geschichte der Buchkultur in Umbruchszeiten lesen kann, so reich die intertextuellen Bezüge sind, von denen ich sicherlich nur einen kleinen Bruchteil wahrgenommen habe, so wenig ist es ein Roman über Bücher wie oben erwähnt. Dafür allein ist schon der gesellschaftliche Kontext zu schwergewichtig. Gleichwohl ist es ein mit leichter Feder geschriebenes Buch und von großer, unaufdringlicher Kunstfertigkeit. Zur Lektüre kann ich es nur empfehlen. … und vielleicht kann mir dann irgendwann jemand eine plausible Antwort darauf geben, warum der Roman Die rechtschaffenen Mörder heißt.


Ingo Schulze: Die rechtschaffenen Mörder. Roman. – Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2020.

Vorlage für das Beitragsbild: Pixabay

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