You are currently viewing Robert Seethaler: Das Feld

Robert Seethaler: Das Feld

Die meisten von uns haben sie bestimmt schon einmal gesehen und bewusst wahrgenommen. Mag sogar sein, man war eine oder einer von ihnen, von jenen Friedhofsbesuchern, die man auf einer der Bänke antrifft. Manche von ihnen wollen gar nicht angetroffen werden, sie möchten dort sitzen und ín Ruhe gelassen werden. Sie wollen alleine sein, sei es mit ihrer Trauer, sei es mit den Toten, sei es mit der Ruhe des Ortes. Manchmal erwecken sie den Eindruck, sie befänden sich in einem stillen Gespräch, das sich dem Außenstehenden verschließt. Ein Gespräch, in dem sie selbst wenig reden, umso mehr zuhören – der Stille an diesem Ort, den Toten. Ein solcher Mensch ist die Hauptfigur in Robert Seethalers neuem Roman Das Feld. Er ist zugleich weithin der Erzähler.

Dieser Erzähler hat so etwas wie einen Lieblingsort, „eine Holzbank unter einer krummgewachsenen Birke“ in dem Teil des Friedhofs, der nicht mehr belegt wird. Es ist der älteste Teil des Bestattungsareals, der schlicht nur das Feld genannt wird. Ganz früher war es eine Brache gewesen, auf die der Viehbauer seine Tiere nicht treiben konnte, nutzlos also, so dass der Verkauf an die Stadt ein einträgliches Geschäft wurde. Jetzt ist dieser Ort wieder eine Art nutzloses Gelände, eine Totenbrache, zu der es den Erzähler immer zieht.

Allerdings ist es nicht der Ort, an dem erzählt wird. Im ersten Kapitel, dem einzigen, das nicht den Namen einer Figur im Titel trägt, sondern nur „Die Stimmen“ heißt, wird der Tagesablauf des Erzählers skizziert, der hier nur schlicht und mit der Stimme eins auktorialen Erzählers  „der Mann“ heißt. So oft wie es geht, im Regelfall täglich besucht er das Feld, verweilt eine Zeit lang dort, begibt sich auf dem Weg nach Hause, um schließlich dort die Stimmen zu Wort kommen lassen:

Ein Gedanke war ihm gekommen, oder vielmehr eine Ahnung, die Zeit seines Lebens betreffend: Als junger Mann wollte er die Zeit vertreiben, später wollte er sie anhalten, und nun, da er alt war wünschte er sich nichts sehnlicher, als sie zurückzugewinnen.

Das war der Gedanke des alten Mannes. Noch wusste er nicht, welchen Nutzen er daraus ziehen sollte, jedenfalls wollte er jetzt erst einmal nach Hause, denn mit Sonnenuntergang wurde es kühl. Er würde zu seinem Vorratsschrank gehen und sich einen kleinen Schluck genehmigen. Dann würde er seine weiche braune Hose anziehen und sich an den Küchentisch setzen, und zwar mit dem Rücken zum Fenster. Er war nämlich der Meinung, nur auf diese Weise, mit dem Rücken zu Welt, in aller Ruhe und ganz ohne Ablenkung, ließe sich ein Gedanke zu Ende denken.

So wie der Roman angelegt sind, sind die anschließend kommentarlos zu Wort kommenden 29 Figuren, diese Gedanken. In der Organisation des Erzählten ist so der alte Mann eben tatsächlich der Erzähler, der er im erzähltheoretischen Sinne nicht ist. Im letzten Kapitel, so hat es den Anschein, bekommt er sogar selbst einen Namen, Harry Stevens. Und er ist selbst einer der Toten, der da spricht. Denn er fragt am Ende, in den beiden letzten Sätzen des Romans, ob es seine Bank noch gebe. Und die Birke.

Friedhof

Diese Konstruktion weist den Erzähltext als Roman aus und eben nicht als Sammlung von 30 Kurzgeschichten, in deren Mittelpunkt einzelne Figuren stehen.  Sie macht zugleich dessen atmosphärischen Reiz aus. Die zahlreichen Stimmen sind bei genauer Betrachtung alle Kopfgeburten des Erzählers, der damit ein vielstimmiges Panorama der fiktiven Kleinstand Paulstadt entwirft. Die ab und an zu lesende Kritik, eine Schwäche des Romans liege in dem Umstand, dass sich die Figuren alle in der gleichen Stimmlage artikulierten, zieht aus diesem Grund auch nicht. Schaut man genauer hin, so stimmt der Befund auch nicht ganz. Die Figuren entwickeln schon eigene Stimmlagen, aber als eine Art Basso continuo schwingt die Erzählerstimme immer mit.

Die Toten, die dabei zu Wort kommen, bilden eine Art Querschnittsgesellschaft. Sie erzählen ausschnitthaft aus ihrem Leben, kaum vom Tod, manche etwas ausführlicher, eine Figur aber auch nur mit einem einzigen Wort: „Idioten.“ Zahlreiche der Figuren, aber nicht alle, kennen einander. Oft kreisen Gedanken um den Tod des Pfarrers Hoberg, der im Wahn die eigene Kirche angezündet hatte. Da er aber auch selbst zu Wort kommt, weiß der Leser, dass der Mann von radikalem Glaubensverlust und tiefer Verzweiflung getrieben war. Dessen Schicksal bildet so etwas wie ein Epizentrum des Romans. Da sind des weiteren der korrupte Bürgermeister oder das Ehepaar Avenieu, das in getrennten Stimmen von der Trostlosigkeit ihres Lebens erzählen. Oder der Gemüsehändler al-Bakri, der sich als Immigrant mit seinen Eltern im Ort niedergelassen hatte und davon erzählt, wie er die Asche seiner verstorbenen Eltern in deren Heimat zurückschmuggelt. Oder, oder … Es gibt kaum eine Geschichte, die nicht anrührt und bewegt – und das, ohne ins Triviale, Sentimentale und Kitschige abzugleiten.

Die Lakonie, mit der Seethaler durch den Erzähler seine Figuren zu Wort kommen lässt, erinnert an die Figurengestaltung seiner Vorgängerromane, insbesondere an  Der Trafikant und Ein ganzes Leben. Aber was sich bei Letzterem in der Totalität eines einzigen Lebens, das des Andreas Egger, manifestiert, wird hier in Ausschnitten entfaltet, in der, so lapidar abgedroschen es klingen mag, das Ganze wieder mehr ist als die Summe seiner Teile. Das macht den Roman eingängig ohne auch nur ein einziges Mal flach zu wirken, das macht seinen Erfolg aus. Sich mit dem Umstand innerlich einverstanden erklären zu können, dass gerade ein bestimmter Roman die Spiegel-Bestsellerliste anführt, kommt so häufig nicht vor.


Robert Seethaler: Das Feld. Roman. – München: Hanser Berlin 2018 (€22.-)

Foto im Beitrag: Pixabay