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Sander Kollaard: Stadium IV

 

Nicht umsonst prägen die Farben Blau und Gelb, die Nationalfarben Schwedens, den Umschlag. Es zeigt ein Rapsfeld in voller Blüte. Die Kameraperspektive suggeriert dem Betrachter einen harten Übergang zwischen Land und Wasser, genauer und wenn man weiß, dass das Motiv auf Öland fotografiert wurde, zwischen Küste und Meer. Schweden, Öland – das ist der Sehnsuchtsraum für das Ehepaar Sarie und Barend Vervoort. Dorthin kehren sie zurück und erinnern sich an die Ursprünge ihrer Liebe, sie vergewissern sich ihrer Liebe noch einmal, das aber unter ganz anderen Auspizien, als sie ursprünglich geplant hatten.

Dass etwas Bedrohliches eingetreten sein muss, weiß der Leser von Beginn an. Denn schon im Prolog begegnet ihm Sarie, die von „Giftträumen“ heimgesucht wird. Nein, eine alptraumhafte Heimsuchung ist ihre Erinnerung genau genommen nicht, vielleicht sogar eher das Gegenteil. Denn in ihrer Erinnerung überlagern sich Bilder von der Mutter, die ihr als Kind oft vorlas, an die sie verzaubernde und sie letztlich ihr Leben lang begleitende Lektüre des Nils Holgersson und an den Aufenthalt auf der schwedischen Insel vor einigen Jahrzehnten. Allesamt Erinnerungen, die Sarie mit glücklichen Momenten ihres Lebens verbinden kann. Was sie allein daran irritiert, ist die Schärfe ihrer Erinnerungen, die sie wiederum der Giftzufuhr zuschreibt. In seinen eigenen Assoziationen ist der Leser schnell bei dem Gedanken, Sarie müsse sich einer Chemotherapie unterziehen. Aufgelöst wird dieser sich aufdrängende Eindruck aber noch nicht. Diese Erzählpassage ist ein schönes Beispiel dafür, wie es dem Autor gelingt, Neugier beim Leser über die Aufklärung der angedeuteten Zusammenhänge aufzubauen, ohne auch nur im geringsten effekthascherisch und reißerisch zu werden oder voyeurhaft der offensichtlich Kranken in ihrem Leiden zuzuschauen.

Das als Prolog bezeichnete Eingangskapitel trägt den Titel „Der Blick von oben“. Das ist, wie man als Leser vielleicht erwarten würde, keine Metapher für das poetologische Prinzip des Romans, denn der wahrt keineswegs den Blick von oben, sondern geht nicht selten ganz nah an seine Figuren heran. Der Blick von oben ist eher eine Art von Bedürfnis der Figuren selbst, auf ihr eigenes Leben zu blicken, den Überblick zu behalten und daraus die eigene Lebenssicherheit zu gewinnen. So unterschiedlich Sarie und Barend sind, so sehr verbindet sie gerade diese Haltung gegenüber ihrem eigenen Leben. Nicht umsonst lernt man Sarie zum ersten Mal kennen, als sie eine Karte von Öland auseinander faltet und über den Blick auf die geologische Formation ins Nachdenken gerät. Und auch Barend lässt sich gleich bei der ersten Begegnung mit ihm von dem Empfinden tragen, „wie aus der Vogelperspektive sein Leben in einem einzigen Blick zu fangen“.

Dabei sind sie ansonsten doch recht verschieden, Sarie, die pensionierte Erdkundelehrerin, mit ihren Vorlieben für Geologie und ihrem Hang zum Ungeplanten, und Barend, der Polizist kurz vor dem eigenen Ruhestand, der offenbar alles in ihrem gemeinsamen Leben sorgfältig plant, akribisch dokumentiert und akkurat verwaltet. Jetzt wollen sie sich einen Wunschtraum erfüllen, eine mehrere Monate, vielleicht ein Jahr dauernde Reise durch Europa mit dem Wohnmobil. Auf einem ersten Kurztrip in die Ardennen, gleich am ersten Tag nach Barends Verabschiedung aus dem Polizeidienst, bricht Sarie zusammen und wird in ein Lütticher Krankenhaus eingeliefert. Dort entdeckt man ein metastasierendes sogenanntes „nichtkleinzelliges Lungenkarzinom“, das schon Tochtergeschwulste in Gehirn gebildet und so den epilepsieartigen Zusammenbruch verursacht hatte. Saries Krebs befindet sich im „Stadium IV“, und als man ihr die Diagnose mitteilt, ist ihr sofort klar, dass es, wie sie selbst sagt, „kein Stadium V“ mehr gebe. Sarie beginnt eine palliative Chemotherapie mit qualvollen Nebenwirkungen; es kommt zu weit reichenden Überlegungen, wie die in den Niederlanden möglichen Formen der aktiven Sterbehilfe eingesetzt werden können. Doch am Ende verweigert sie alle medizinischen Maßnahmen und Vorschläge, ihr Leben so weit es geht zu verlängern oder auf humane Weise vorzeitig zu beenden:

„Ich will nach Öland“, sagte sie,“genau, wie wir es vorgehabt hatten, mit dem Wohnmobil. Ich will, dass du mich mitnimmst, nach Bläsinge, Södra Udde und Blå Jungfrun. Ich will all die Orte noch einmal sehen und mich erinnern, wie glücklich wir waren … Ich will mich nicht mehr mit dem Krebs, den Behandlungen und den Prognosen beschäftigen. Wenn du mir wirklich helfen willst, nimm mich mit und mach mich glücklich, so wie damals, damit ich glücklich sterbe.

So die Bitte Saries an ihren Mann, der ihr sofort folgt. Die Reise, die die beiden dann nach Öland unternehmen, ist gleich mehrfach geschichtet. Es ist eine Reise in die eigene Vergangenheit, die auch über Rückblenden immer wieder näher beleuchtet wird. Beide sind Kinder aus dem sozialdemokratischen Milieu der Niederlande und lernen sich auf einer, durch die Partei organisierte Sommerfreizeit 1968 auf Öland kennen. Zum Bindeglied zwischen beiden wird Olof Palme, der zu dieser Zeit in Schweden Minister für Erziehung und Bildung war und für einige Tage in diesem Feriencamp mit den jungen Leuten diskutierte und arbeitete. Die gesamte Reise ist daher immer auch eine Erinnerungsreminiszenz an eine europäische Sozialdemokratie, die es so nicht mehr gibt.

Es ist aber ebenso eine Reise zu den Wurzeln der eigenen Liebe und der Partnerschaft, die die Jahre offenbar unbeschadet überdauert hat. Ein letztes Mal wird ihnen bewusst, was sie aneinander haben/hatten. Und die dritte Ebene ist das genaue Protokoll des Sterbens, der schonungs-, aber alles andere als mitleidlose Blick auf den körperlichen Verfall Saries. Dem Erzähler entgehen nicht einmal die durch die Krebserkrankung und Therapie verursachten körperlichen Veränderungen im Genitalbereich der Frau. Aber es ist niemals indiskret, es ist niemals obszön, es ist immer nur traurig. Einen solchen Blick auf die Krankheit und ihre Folgen habe ich bisher noch nicht lesen dürfen.

Dieser Roman rührt und berührt im besten Sinne – aber nicht nur weil er traurig ist. Denn er lässt auch keine Zweifel daran, dass die beiden Menschen noch einmal ihr Glück erleben, wenn auch zum letzten Mal. Als Barend sich sicher ist, dass seine Frau nun glücklich sei, als sie ihm dieses Glück bestätigt, die Situation also geschaffen ist, dass sie, wie sie sich gewünscht hat, glücklich sterben könne, in diesem Moment des „Verweile doch, du bist so schön“ — erschlägt er sie. Mit dieser Schlusswendung, so muss ich gestehen, hatte ich nicht gerechnet. Sie versetzt den Leser in erhebliche Irritation. Was macht er da? Ist das, was er tut, eine letzter Liebesdienst? Ist er moralisch zu rechtfertigen?

Der Roman beantwortet die Frage nicht, und das muss er auch nicht. Sander Kollard gelingt es ohne Zweifel in seinem ersten Roman,zu zeigen …, nein, nicht nur zu zeigen, sondern zu erzählen, was es bedeutet, sich die Liebe zueinander zu bewahren, auch und gerade wenn sie vom Tod bedroht und man das Ringen mit ihm verlieren wird. Es ist eine Geschichte über eine vergangene, glückliche Zeit und zugleich ein Modell, den Erfahrungen dieser Zeit Dauer zu verleihen. Es ist – schlicht gesagt – ganz große Literatur.

Ein Nachtrag

Während sich mein Beitrag zu Sander Kollaards wunderbaren Roman  in der Phase der Endredaktion befand, erreichte mich der sonntägliche Blogger Newsletter von Mara Giese. Darin schildert sie diesmal, wie sie ihre eigenen Rezensionen schreibt, und gibt handfeste Tipps. Sie warnt unter anderem vor einem No-Go, dem Spoilern, also dem Verraten von Handlungselementen, die einem Roman oder einem anderen literarischen Text eine zentrale Wendung geben, die der Leser noch nicht kennt. Am Abend erhielt ich eine erste Rückmeldung zu meinem Artikel, die insgesamt positiv ausfiel, aber darauf hinwies, ich hätte gespoilert. Zwei zeitnahe Hinweise, die in die gleiche Kerbe schlugen; das ist Anlass genug, um den Beitrag entweder noch einmal zu überarbeiten oder aber aber auf die Entscheidung, den Plot zu erwähnen, noch einmal einzugehen.

Es ist richtig: Ich hatte überlegt, ob ich den Hinweis auf Saries gewaltsamen Tod durch ihren Ehemann aufnehme oder nicht, ob ich nicht tatsächlich einen Plot verraten würde, wenn ich diese Wendung erwähne. Warum ich es dennoch getan habe, möchte ich gerne begründen:

Das letzte Kapitel beginnt mit einem Vorgriff auf die Zeit nach Saries Tod. Barend denkt in seiner Trauer über seine Trauer nach und stellt fest, dass sie schon begonnen hatte, bevor Sarie tot war. In diesem Zusammenhang wird erwähnt, dass ihm das nunmehr leere Haus zu schaffen macht. Beim Leser erzeugt die Erzählpassage zunächst ein relativ konventionelles Bild vom einsetzenden Prozess des Trauerns. Wenige Seiten später erfährt man dann, wie Sarie gestorben ist. Wissend um den ebenso erlösenden wie letztlich dennoch auch gewaltsamen Tod Saries ist man überrascht, dass es offensichtlich keine Ermittlungen gegen Barend gegeben hat. Warum das so ist, darüber schweigt sich der Roman aus, dimmt damit aber auch den Stellenwert der Todesumstände herunter. Viel wichtiger ist ihm am Ende, die Glückserfüllung deutlich hervorzuheben und zu betonen. Ich kann mich dieser Fokussierung nicht entziehen oder gar widersetzen. Mein Augenmerk liegt so sehr auf diesem so unsentimental und kitschresistent entworfenen Glück des Moments, dass der Totschlag, der Barends Handlung im streng juristischen Sinne vielleicht sein mag, darüber abgeschwächt wird, so sehr eben, dass er auch verraten werden darf. Gar sollte?


Sander Kollard: Stadium IV. Roman. Aus dem Niederländischen von Gerd Busse. – München: A1 Verlag 2016 (18,80 €)