Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik

Fontane, Grete Minde

Die Erinnerung trügt, fast immer. Dieser Umstand ist von solcher Gewissheit, dass es schon fast peinlich wirkt, wenn jemand meint, darauf einmal mehr hinweisen zu müssen. Was anderes aber ist der Moment, in dem das Trügerische der Erinnerung bewusst wird. Ein Zögern entsteht, sei es in der Bewegung, die gerade ausgeführt wird, sei es in dem Satz, den man aussprechen will und nicht zu Ende bekommt, sei es im Gedanken, den man nicht halten kann. Es ist, als weise die Einsicht in den Gedächtnisirrtum auf eine Lücke im eigenen Selbst, die irritiert. Dann fragt man sich drängend: Woher kommt es, dass …?

Irrtümer

Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Grete Minde gelesen hatte, diese Novelle „nach einer altmärkischen Chronik“, die im Mai und Juni 1879 in zwei Teilen in der von Paul Lindau betreuten Zeitschrift „Nord und Süd“ und 1880 dann in Buchform erschienen war. War es 20 Jahre her, vielleicht 25 Jahre, noch länger? Ich weiß es nicht mehr. Aber ich erinnerte mich an die Schilderung des Feuers, das Grete Minde angefacht und das, der historischen Überlieferung nach, die Stadt Tangermünde 1617 in Schutt und Asche gelegt hatte. Aus dem Gedächtnis die Handlung hervorklaubend hätte ich behauptet, dieser Brand nehme einen ganz wesentlichen Teil des letzten Drittels des Romans ein. Ich sah in meiner Leseerinnerung Grete Minde mit ihrem Baby im Arm durch die brennende Stadt laufen, völlig von Sinnen, um sie herum die Feuerhölle, sie auf dem Weg zur Stadtkirche, schließlich oben auf dem Kirchturm, von dem sie, als alle sie sehen, sich hinterstürzt. So die Erinnerung an eine Lektüre, die damals  nicht einmal die erste war.

Tatsächlich aber ist es anders. Der verheerende Stadtbrand bildet das Ende der Novelle, aber dessen Schilderung beschränkt sich auf das letzte der insgesamt 20 Kapitel und hier, je nach Ausgabe, auf drei bis fünf Druckseiten. Das Monströse, das im Gedächtnis hängenblieb, liegt also nicht um Erzählumfang begründet, sondern offensichtlich in der Intensität der Schilderung. Grete Minde stürzt sich auch nicht vom Turm, sondern der stürzt ein und reißt die Frau und ihr Kind mit. Aber es ist sogar schlimmer noch. Vergessen nämlich war, dass Grete nicht alleine mit ihrem Kind auf diesen Turm gestiegen war. Sie war zuvor noch einmal unentdeckt ins Haus ihres Halbbruders Gerdt gegangen, hatte dessen kleinen Sohn gegen dessen Willen mitgenommen, entführt also, ihn mit hinaufgezerrt auf den Turm, ihn dort ins Gebälk der Glockenluke gestellt, so dass alle unten auf den Platz vor der Kirche das Kind sehen konnten, auch der Vater – als der Turm dann in sich zusammenstürzte.

Davon in der Erinnerung nichts. Aber so verändert sich beim Wiederlesen das Bild von der jungen Frau dann doch, die im Gedächtnis geblieben war, die sich gerächt hatte an dem Unrecht, das man ihr angetan hatte, deren zündelnder Amoklauf verständlich war, bei all der Niedertracht und Zurücksetzung, die ihr widerfahren war. Aber als Kindsmörderin?

Gewissheiten, oder was man dafür hält

Nach dem groß angelegten historischen Roman Vor dem Sturm, den Fontane 1878 abgeschlossen hatte, wandte er sich der deutlich konzentrierteren Erzählform der Novelle zu. Dahinter steckten sicherlich künstlerische Erwägungen; hinzu aber kamen auch ohne Zweifel materielle Rücksichten, weil die kürzere Form dem gerade erst als freier Schriftsteller arbeitenden Fontane Geldeinnahmen zeitnaher sicherte als längerfristige Romanprojekte. Den Stoff für seine Novelle holte er im Wesentlichen aus der schon mehrfach angesprochenen Chronik. Die Arbeit daran aber begleiteten auch ebenso gründliche Recherchen vor Ort, die die Große Brandenburger Ausgabe der Novelle anschaulich dokumentiert.

Die erzählte Geschichte bleibt zeitlich wie räumlich im Überlieferten verortet. Die Novellenhandlung weicht aber signifkant ab. Denn die historische Grete Minde war nicht im Feuer umgekommen, sondern wurde 1619 nach Geständnis unter Folter als Urheberin des Stadtbrands verurteilt und hingerichtet. Ihre Urheberschaft ist historisch also weniger gewiss als in der Erzählung. Das allerdings, so viel sei erwähnt, wusste Fontane aber nicht, da das Schicksal der historischen Grete Minde erst einige Jahre nach dem Erscheinen der Novelle aufgrund lokalgeschichtlicher Forschungen bekannt wurde.

Fontane entwickelt zudem eine uns heute als familiäre Sozialstruktur gar nicht so unbekannte Figurenkonstellation. Wir würden sie Patchwork nennen. In dessen Zentrum steht zunächst der alte Jakob Minde, Gretes Vater. Er war Ratsherr der Stadt Tangermünde und ein angesehener und erfolgreicher Kaufmann, der die Strukturen der Hanse für seine durchweg erfolgreichen Geschäfte zu nutzen verstanden hatte. Er ist recht früh verwitwet, aus dieser Ehe stammt der Sohn Gerdt, eine FIgur von wenig einnehmendem Charakter, profillos und unsympathisch in eins. Grete ist die Tochter aus zweiter Ehe, die in der Tangermünder Bürgerschaft durchaus Skandalcharakter gehabt hatte. Denn Jakob Mindes zweite Frau hatte nicht nur ein südländisches Aussehen, sie war auch noch katholisch, ein Fremdkörper also in dieser protestantischen Bürgerlichkeitstümelei. Grete selbst erinnert in ihrem Äußeren und wohl auch in ihrem Temperament an ihre Mutter, die ebenfalls früh stirbt und Jakob Minde zum zweiten Mal als Witwer zurücklässt. Als Gerdt Trude, eine den eigenen Vorteil immer im Auge haltende, offensichtlich durchaus attraktive Frau, heiratet, zeigt sich das Eskalationspotential, das in dieser Familie liegt und das sich Bahn bricht, als der alte Minde stirbt und Grete zur Vollwaisen wird.

Das Interessante ist, dass sich diese Familienkonstellation in unmittelbarer Nachbarschaft wiederfindet. Denn auch Valtin Zernitz, Gretes jugendlicher Freund und schließlich Lebenspartner, ist ebenfalls Halbwaise. Auch seine Mutter ist verstorben, sein Vater hat ebenfalls wieder geheiratet. Auch hier kann man einen deutlichen Altersunterschied zwischen den Ehepartnern festhalten. Früh schon entstehen bei den beiden jugendlichen Hauptfiguren Fluchtpläne, Überlegungen, die als bedrückend empfundene Situation in der jeweils eigenen Familie hinter sich zu lassen.

Motor dieser immer wieder auftauchenden Gedanken und Sehnsüchte ist aber in ungleich höherem Maße Valtin. Dabei ist dessen Lebenssituation eine insgesamt kommodere und entspanntere als die Gretes. Auch er klagt immer wieder über seine Stiefmutter Emrentz. Deren Verhältnis zueinander ist allerdings weit entfernt von dem Neid- und Konkurrenzverhalten, das im Hause Minde von Trude ausgeht. In den wenigen Passagen, in denen Emrentz auftaucht und spricht, erscheint sie durchaus als Person, mit der man leben kann. Ein wenig oberflächlich: ja, durchaus auch ihre materielle SIcherheit im Blick behaltend: ja, Valtin als familiären Störfaktor wahrnehmend: nein. Insofern erscheint es als kleine Schwäche der Novelle, dass Valtins Haltung nicht so ganz schlüssig motiviert zu sein scheint.

Auslöser der Flucht ist schließlich die Zurückweisung, die Grete nach dem Tod ihres Vaters durch Gerdt und dessen Frau Trude erfährt, die sie wie eine Magd behandeln. Valtin und Grete verlassen Tangermünde und schließen sich einer Puppenspielertruppe an. Einige Jahre später, die Truppe befindet sich wieder in der Altmark, begegnet der Leser den Figuren wieder. Valtin ist schwer erkrankt und stirbt, Grete verlässt mit dem gemeinsamen Kind die Schausteller und begibt sich wieder nach Tangermünde, in der vagen Hoffnung, bei ihrem Bruder unterzukommen oder zumindest das ihr zustehende Erbe zu erhalten. Stattdessen erlebt sie eine Herabwürdigung ohnegleichen, die Folgen wurden schon benannt.

Wirkungen

Die Rezeptionsgeschichte des Novellendebüts ist recht schnell erzählt. Grete Minde fand in der zeitgenössischen Literaturkritik Aufmerksamkeit und Anerkennung. Auch mit dem wirtschaftlichen Ertrag wird Fontane zufrieden gewesen sein. Erst im 20. Jahrhundert rückte die Novelle immer mehr in die Reihe der sogenannten „Nebenwerke“, die im Schatten der großen Gesellschaftsromane stehen. Mag sein, nicht ganz zu Unrecht. Aber dann muss man auch erwähnen, dass die Novelle vieles vorbereitet, wenn nicht gar vorwegnimmt, was sich in den bekannten Romanen ausprägen wird. So ist Grete ebenso wie Effi Briest eine „Tochter der Luft“, nicht frei von Verzogenheit, erst recht nicht ohne Stolz. Aber sie ist zugleich archaischer, unmittelbarer und authentischer in ihren Reaktionen als Effi. Was bei Erstgenannter Unmittelbarkeit ist, ist bei der berühmten Nachfolgerin gesellschaftlich und zivilisatorisch überformt, so dass sich deren Schicksal nicht mehr in der Rache, sondern nur noch in einem Leben zum Tode enden kann. Auch erzählerisch  is vieles in Grete MInde vorgebildet. Fontanes sorgfältig entwickelte Leitmotivtechnik und nicht zuletzt seine Dialoggestaltung weisen auf Kommendes, ohne dass es einen Hinweises auf ein vermeintliches „Nebenwerk“ bedurfte, der immer eine gewisse Abwertung konnotiert. Damit tut man der Novelle Unrecht, deren Lektüre auch in heutigen Tagen lohnenswert bleibt. Wenn dann beim Wiederlesen die Erinnerung an frühere Lektüren irritiert, ist das sicherlich nicht das Schlechteste.


Theodor Fontane: Grete Minde. Nach einer altmärkischen Chronik. Herausgegeben von Christine Hehle. – Berlin: Aufbau Verlag 1997 ( Große Brandenburger Ausgabe. Das Erzählerische Werk, Band 3).

Die Novelle gibt es auch in zahlreichen preiswerten Taschenbuchausgaben. Am empfehlenswertesten erscheint mir derzeit die von Hellmuth Nürnberger herausgegebene Ausgabe bei DTV zum Preis von € 8,90.

Kommentar verfassen

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert