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Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag

Als Günter de Bruyn seinen letzten Roman Neue Herrlichkeit veröffentlichte, existierte die DDR noch. Michail Gorbatschow war noch nicht einmal Generalsekretär der KPdSU, von Glasnost und Perestroika keine Spur. Darauf musste man 1984, als das Buch zunächst nur in der (alten) Bundesrepublik erschien, noch ein Jahr warten. Dass aber der Roman ein Jahr später auch in der DDR erscheinen konnte, nachdem Gorbatschow in der Sowjetunion an die Macht gekommen war, ist wohl Zufall. Hätte jemand zu diesem Zeitpunkt behauptet, fünf Jahre später ginge die DDR den Bach runter, ein weiteres Jahr später gebe es sie auch völkerrechtlich nicht mehr, der hätte ungläubiges Kopfschütteln geerntet oder, deutlicher, sein Gegenüber dabei beobachten können, wie sich dessen Zeigefinger der Stirn nähert. Was ist seither nicht alles passiert!

Günter de Bruyn war 65 Jahre alt, als Neue Herrlichkeit vom S. Fischer Verlag veröffentlicht wurde. Jetzt ist er 92. Dass jemandem in diesem Alter noch ein abgeschlossener Roman gelingt, ist eher unwahrscheinlich. Ihm, so viel sei vorweg gesagt, ist mit Der neunzigste Geburtstag dergleichen auf beeindruckende Weise gelungen.

Dabei war der Autor in den knapp 30 Jahren dazwischen ausgesprochen produktiv. Seine auf zwei Bände angelegte Autobiographie, die zahlreichen Bücher zur preußischen, insbesondere märkischen Geschichte fanden in den interessierten Kreisen große Resonanz. de Bruyns biographische Skizzen zu Persönlichkeiten, insbesondere zu Intellektuellen und Literaten an den oftmals übersehenen Seitenrändern der deutschen Kulturgeschichte sind hoch geschätzt. Aber einen literarischen Text gab es von ihm seither nicht mehr.

Doch jetzt Der neunzigste Geburtstag!

Topographisch ist de Bruyn darin seiner Landschaft treu geblieben, dem Landstück nördlich von Berlin, das Fontane, de Bruyns großes Vorbild, als die Mark Brandenburg bezeichnete. Das Dorf Wittenhagen, das nur in den erzählerischen Rückblenden verlassen wird, ist fiktiv. Zu vermuten ist aber, dass es dem Autor, der selbst in solch dörflichen Zusammenhängen seit Jahrzehnten recht zurückgezogen lebt, vertraut ist als Heimat.

Die Handlungslinie des Romans hält, was der Titel verspricht. Denn der zeitliche Horizont, der sich über ziemlich genau ein Jahr erstreckt, ist der neunzigste Geburtstag von Hedwig Leydenfrost. Sie, eine ehemalige APO-Aktivistin und überzeugte Linke, lebt seit der Wiedervereinigung wieder in Wittenhagen, gemeinsam mit ihrem kaum jüngeren Bruder Leonhard, kurz und von allen Leo genannt, dessen Tochter und Sohn aus gescheiterter Ehe sowie ihrer eigenen Adoptivtochter Fatima. Sie bewohnen am Rand des Dorfes ein durchaus stattlich zu nennendes, aber deutlich von Verfall bedrohtes Gutshaus, das die Dorfbewohner schlicht die „Villa“ nennen.

Dieses aus dem Besitz der Eltern stammende Anwesen hatte die beiden Geschwister wieder zusammengeführt. Denn während Hedwig Leydenfrost im Hamburg aufwuchs und im Westen sozialisiert wurde, war Leo in der DDR geblieben, hatte eine Ausbildung als Bibliothekar abgeschlossen und viele Jahre in Ost-Berlin gearbeitet. Karriere hatte er nicht gemacht, weil er, wie im Roman kurz erwähnt wird, sich „geweigert hatte, in die Staatspartei einzutreten“. Mehr noch: wegen der angeblich privaten Verbreitung ebenso angeblich verbotener Bücher hatte er ein halbes Jahr im Gefängnis gesessen. Zur eigenen Verwunderung konnte er danach wieder als Bibliothekar arbeiten, wenn auch schlechter bezahlt. Immerhin hatte er in Berlin seine Frau kennengelernt, Maria, die wenige Jahre vor dem Einsetzen der Romanhandlung verstorben war.

Wie weit die Figur des Leo Leydenfrost als Alter Ego der Autors aufgebaut ist, braucht hier nicht weiter erörtert zu werden. Er, der sich gerne bei der Kurzform seines Vornamens nennen lässt, aber jeden Brief, jede Email grundsätzlich mit dem vollen Namen Leonhard unterzeichnet, ist die eigentliche Hauptfigur des Romans und der Hauptinitiator der Vorbereitungen auf den neunzigsten Geburtstag.

Auf Festivitäten, die Hedwig eigentlich gar nicht will und denen sie sich am Ende auf eine durchaus zu ihrem Charakter passende Weise entzieht. Auf die sie sich aber einlässt, als man ihr vorschlägt, alle zu erwartenden Gratifikationen den Flüchtlingen zukommen zu lassen, die in einer umgebauten Reithalle des Gutshofs untergebracht werden sollen.

Man ahnt, wir befinden uns zu Beginn der Überlegungen zum neunzigsten Geburtstag irgendwann im Spätsommer des Jahres 2015, als Deutschland dem Appell der Bundeskanzlerin weithin vorbehaltlos folgte und euphorisiert glaubte, dieses „Wir schaffen das“ sei ein Leichtes, um im Folgejahr ebenso schnell zu erodieren. Genau in dieses von kollektiven Gefühlsschwankungen so geprägte Jahr hinein platziert de Bruyn die Handlung, um Bewusstseinsverhältnisse und Denkweisen in politisch bewegten Zeiten freizulegen, die vor allem aus der Altersperspektive Leos betrachtet werden.

Günter de Bruyn bedient sich dabei weithin eines auktorialen Erzählers, der den keineswegs leicht zugänglichen Charakter in den Fokus stellt. Leo ist ein überzeugter Konservativer durch und durch, dem gendergerechtes Sprechen als Sprachverfall begegnet, dem, wie es heißt, „der religiöse Eifer der in den Moscheen aufgereihten Männlichkeit“ Angst macht, der die digitalen Medien verachtet und zugleich jene erstaunlich gut zu nutzen weiß, die er benötigt, der die Profitgier und die Wendehalsigkeit einiger Mitmenschen mutig un offen benennt, dem Fortschritt ein Gräuel ist. Er ist das intellektuelle Gegengewicht zu seiner älteren Schwester, dessen ewiges Kritisieren sie liebevoll als wirksames Vademecum gegen die gefürchtete Demenz bezeichnet, denn er verlangt ihr zur Ausschärfung von Haltungen gehörige Denkanstrengungen ab.

In der Tat! Leos Haltung, zunehmend geprägt auch durch seine altersbedingt größer werdende Gebrechlichkeit, ist alles andere als dumpf, sexistisch, nationalistisch oder gar völkisch. Sie erscheint vielmehr als Ausdruck einer tief verwurzelten Menschlichkeit, der die fehllaufenden Entwicklungen der Zeit Sorge und Angst bereiten.

Grund dafür gibt es allemal. Denn er und seine Mitmenschen leben keineswegs, wie der Untertitel des Romans ironisch vorgaukelt, in einem „ländlichen Idyll“, mag es auf den ersten Blick von außen auch noch so erscheinen. Die Flüchtlinge, auf die man sich vorbereitet und über Monate gewartet hatte, kommen nicht. Was Hedwig Leydenfrost in der ganzen Vorbereitungszeit auf ihr Fest Kraft und Lebensmut zurückgegeben hatte, entpuppt sich als Chimäre. Stattdessen erhält das Dorf ein Wellnesshotel, das die Region touristisch aufwerten soll, von dem de facto aber nur wenige profitieren. Das sind zudem im Wesentlichen jene Leute, die auch schon zu den Profiteuren gehörten, als Günter de Bruyns Neue Herrlichkeit erschienen war.

Kurz gesagt, insofern das möglich ist. Günter de Bruyns Der neunzigste Geburtstag ist vieles zugleich, und das auf beeindruckende und bewegende Weise: Er ist Zeitroman und Dorfroman, vor allem aber ein Altersroman – und selbst das im doppelten Sinne: Dass es dem mittlerweile 92-jährigen Autor gelungen ist, ein so dichtes und stimmiges Erzählgewebe zu schaffen, verdient mehr als nur Respekt, sondern vor allem viele Leserinnen und Leser. Wie er mit ebenso liebevollem wie ironisch distanziertem Blick die Bürden des ebenso intellektuell wachen wie zugleich alternden Menschen in den Blick nimmt, ihn hineinstellt in Landschaft und Gesellschaft, die ihm das Heimischbleiben alles andere als leicht machen, das ist große Literatur.


Günter de Bruyn: Der neunzigste Geburtstag. Ein ländliches Idyll. – Frankfurt am Main: S. Fischer Verlag 2018 (22,00 €)

Bildnachweis

Grundlage für das Beitragsbild ist ein Fotomotiv von einem See im Mecklenburgischen.