Daniel Kehlmann: Tyll

Kehlmann, Tyll

Wie es so ist: (fast) immer kommt eine oder einer einem zuvor. Dazu musst du dich verhalten, damit musst du umgehen. So auch hier beim Lesen und Schreiben über Daniel Kehlmanns neuem Roman Tyll. Du bist nicht der Erste, der ihn gelesen hat, nicht der Erste, der darüber ein paar Worte verlieren möchte. Es sind viele, im Falle Kehlmanns sehr viele, die sich vor dir äußern. die ihre Wahrnehmungen und Lesarten artikulieren, bevor du selbst den Roman zu Ende gelesen hast.

Wie damit umgehen? All die Äußerungen systematisch zur Kenntnis nehmen? Geht kaum. Sie mitnehmen, mehr oder minder en passant, mehr oder minder zufallsgesteuert, das geht schon. Dabei fällt etwas auf und erzeugt fast schon Erstaunen: die einhellige Zustimmung, nicht selten Begeisterung, die dem Tyll entgegengebracht wird, und das nahezu vollständige Fehlen kritischer Stimmen oder auch nur eingeschränkter Applaus. Da ist eine Breite an Lob zu beobachten, die Daniel Kehlmann so seit Die Vermessung der Welt (2005) nicht mehr erlebt hat.

Eine, wenn auch durchaus prominente Ausnahme: Thea Dorn sah sich in der Buchmesse-Sendung des Literarischen Quartetts vom 13. Oktober 2017 aufgrund ihrer persönlichen Leseerfahrung nicht imstande, dem verbreiteten Lob zuzustimmen und kritisierte an dem Roman vor allem eine „Verbiedermeierung“ des Dreißigjährigen Krieges. Während der eigenen Lektüre, erst recht je weiter sie fortschritt, konntest du Thea Dorns kritische Stimme immer besser nachvollziehen. Du teiltest sie vielleicht nicht in der medienwirksam pointierten Schärfe, aber sie leuchtete dir ein – durchaus und fast, fast bis zum Schluss.

Daniel Kehlmann nimmt die ursprünglich aus dem 14. Jahrhundert stammende Gestalt des Narren Tyll Ulenspiegel und versetzt sie in die Wirren des Dreißigjährigen Krieges zwischen 1618 und 1648. In insgesamt acht Kapiteln begleitet der Leser die Titelfigur in – von der Ausnahme des ersten Kapitels abgesehen – chronologisch aufeinander folgenden Stationen durch die Schrecknisse eines Krieges, der als erster europäischer Krieg in die Geschichte einging. Er verwüstete Mitteleuropa weithin. Nach Schätzungen dezimierte er in manchen Regionen und Landstrichen die Bevölkerung um mehr als 40% und hatte schon allein aufgrund dieses Umstands den weitgehenden Verlust gesellschaftlicher Ordnung und sozialer Verhältnisse zur Folge.

Doch Tyll überlebt – immer. Der Roman erzählt aber nicht die Geschichte dieses Überlebens, Tyll kann man nicht einmal ernsthaft als Hauptfigur bezeichnen. Aber er taucht immer wieder auf, manchmal wie aus dem Nichts, vereinzelt auch aufgrund arg verschraubt erscheinender Zufälle. Etwa wenn er dem als Universalgelehrter angesehenen Jesuiten Athanasius Kircher begegnet, einer historisch verbürgten Figur, und das mitten irgendwo im ländlichen Nichts jenseits von Hamburg. Hier wie in den anderen Episoden ist Tyll immer der Gegenspieler, der recht behält.

Mehrfach waren Kircher und er bis dahin aufeinander getroffen. Der Jesuit hatte den Tod von Tylls Vater als Ketzer betrieben, hatte kirchliche Macht rücksichtslos und unbarmherzig durchgesetzt. Doch jetzt muss Kircher vor Tyll fliehen, der ihn nicht einmal physisch bedroht. Aber dessen Wahrheit hat er nichts entgegenzusetzen und kann sie nicht ertragen. Er flieht wie der Wicht, der er ist.

Kehlmann spielt in solchen Figurenkonstellationen seine Generalthemen durch: das Verhältnis von Wirklichkeit, Kunst und Wahrheit, die Macht der Täuschung und Irreführung, die Dünnbödigkeit von Sein und Schein, und vielleicht müsste man eher sagen, von Sein im Schein. Dabei erweist sich der Autor wie gewohnt als gekonnter und gewitzter Erzähler. Aber entsteht so beim Leser ein Eindruck von der Grausamkeit dieses Kriegs, von seinen moralischen Verwerfungen? Eher, in der Tat, nicht, da musst du Thea Dorn zustimmen. Da bleibt die Darstellung blass, beschränkt sich nicht selten darauf, Verhältnisse zu benennen statt erzählerisch zu gestalten.

Allerdings muss man auch zugleich fragen, ob der Kehlmann das mit seinem Roman tatsächlich auch will. Tyll, die Figur, ist kein Simplicius Simplicissimus und Kehlmann kein Grimmelshausen-Epigone. Hier im Roman Tyll zeigt sich nicht der Einfältige sensibel für die barbarisierten Zeitläufte, sondern der Intellektuelle hält ihnen den Spiegel vor, nicht nur, nicht einmal zuerst durch das, was er sagt, sondern was er tut.

Das ändert sich zum Ende hin. Tyll hat quasi das letzte Wort. Eine tolle Schlussszene des Romans, die mit manchem versöhnt, was beim Lesen unterwegs nicht ganz überzeugen konnte. Da trifft Tyll erneut mit Elisabeth zusammen, der Tochter des britischen Königs und Ehefrau des mittlerweile verstorbenen Friedrich V., den sogenannten Winterkönig. Der hatte mit seinem Griff nach der böhmischen Königskrone den Krieg ausgelöst, der kein Ende fand. Liz, so nennt sie nicht nur Tyll, ist eine der seltenen Frauenfiguren im Oeuvre Kehlmanns, der er jenseits der Stereotypien erzählerisch Leben einhauchen kann. Wenn du immer noch behauptest, Kehlmann sei ein ausgezeichneter Erzähler, nur zwei Dinge könne er nicht: Frauen und Sex, so wird man dir bis auf weiteres in Bezug auf Letzteres vielleicht nicht widersprechen. Liz aber wird man dir entgegenhalten, und dann musst du schweigen.

Wie auch immer! Hier nun treffen Liz und Tyll nach Jahren wieder zusammen. Sie  hat sich gerade auf einen Balkon zurückgezogen, um sich zumindest für einen kurzen Moment einmal von dem diplomatischen Geschachere zu entfernen, an dem sie ansonsten teilzunehmen sucht, um ihre, wie sie glaubt, legitimen Interessen (mit ziemlich aussichtsloser Perspektive) zu vertreten. Plötzlich ist Tyll da, wie so oft scheinbar aus dem Nichts, steht neben ihr auf diesem Balkon. Im Gespräch bietet sie ihm an, ihr nach London zurück an den britischen Hof zu folgen. Doch Tyll lehnt ab.

„Um der alten Zeiten willen“, sagte sie. „Du weißt so gut wie ich, dass der Kaiser sich früher oder später über dich ärgert. Dann bist du wieder auf der Straße. Du hast es besser bei mir.“
„Willst mir Gnadenbrot geben, kleine Liz? Eine tägliche Suppe und eine dicke Decke und warme Pantoffeln, bis ich friedlich sterbe?“
„So schlecht ist das nicht.“
„Aber weißt du, was besser ist? Noch besser als friedlich sterben?“
„Sag es mir.“
„Nicht sterben, kleine Liz. Das ist viel besser.“

Das, genau das macht die Figur aus: sie stirbt nicht. Sie stirbt nicht, nicht weil sei nicht kann, sondern weil sie unsterblich ist. Sie ist nicht zum Leben verdammt, ist ebenso wenig eine Ahasver-Figur wie ein Simplicissimus. Der Gaukler, der Künstler, der Intellektuelle als stets Überlebender, das ist eine durchaus tröstliche Denkfigur, die zugleich nichts Biedermeierliches hat, die dir naherückt, die bleibt.


Daniel Kehlmann: Tyll. Roman. – Reinbek bei Hamburg: Rowohlt Verlag 2017 (22,95 €)

Bildnachweis

Das als Beitragsbild verwendete und bearbeitete Historiengemälde des niederländischen Malers Jan Asselein (ca. 1600-1652) zeigt den schwedischen König Gustav Adolph bei der Schlacht von Lützen am 6. November 1632. Es wird unter Wikimedia Commons zur Verfügung gestellt.

4 Kommentare zu „Daniel Kehlmann: Tyll“

    1. Vielen Dank für deine freundliche Rückmeldung. Der Roman überzeugt mich nicht in allen Belangen, aber lesenswert ist er allemal. Herzliche Grüße zurück.

  1. „Wie es so ist: (fast) immer kommt eine oder einer einem zuvor. Dazu musst du dich verhalten, damit musst du umgehen. So auch hier beim Lesen und Schreiben über Daniel Kehlmanns neuem Roman Tyll. Du bist nicht der Erste, der ihn gelesen hat, nicht der Erste, der darüber ein paar Worte verlieren möchte. Es sind viele, im Falle Kehlmanns sehr viele, die sich vor dir äußern. die ihre Wahrnehmungen und Lesarten artikulieren, bevor du selbst den Roman zu Ende gelesen hast. Wie damit umgehen?“

    Eine Problematik, die auch kenne und der ich zumeist aus dem Weg zu gehen versuche, in dem ich mich weniger auf Novitäten stürze und mir dann lieber doch einen älteren Titel vornehme. Das generiert vielleicht weniger Aufmerksamkeit in der Blog-Gemeinde, macht es mir aber wesentlich einfacher „unvorbelastet“ an eine Besprechung heranzugehen. – Dir ist das mit Deiner Rezension hervorragend gelungen. Seit „Die Vermessung der Welt“ habe ich Kehlmann nicht mehr gelesen. Trotz Deiner leichten Kritikpunkte kriege ich aber nun wieder Lust darauf, diesen Zustand zu ändern. – Beste Grüße aus der Crimealley, Stefan

    1. Herzlichen Dank, deine Rückmeldung hat mich sehr gefreut.
      Der bloggende Umgang mit den Novitäten kann manchmal wirklich problematisch werden. Eine stringente Lösung habe ich nicht, lebe aber mit der Hoffnung, dass ich sie wohl auch gar nicht brauche, mittlerweile ganz gut
      Viele Grüße

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