Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt

Zu Beginn des Romans fährt ein roter Cadillac über den Highway 34 auf die Main Street von Holt, dieser aus allen Romanen Kent Harufs bekannten, fiktiven Kleinstadt in Colorado, und parkt dort. Sofort ploppen Bilder des Vertrauten auf, der Leser ist wieder da, wo er schon einmal war. An dem Ort, den er kennt oder zu kennen meint, weil ja schon Vorstellungsbilder da sind, seien sie jetzt zurückgewonnen aus den vorherigen Romanen, seien sie generiert aus den anderweitig medial vermittelten Klischees einer typischen amerikanischen Kleinstadt mitten … – und das kann man auch topographisch nahezu wörtlich nehmen – mitten in den Vereinigten Staaten. Wie immer, wenn man einen Roman von Kent Haruf liest, verspürt man eine gewisse Fremdheit und fühlt sich zugleich im Bekannten zuhause in diesem Ort zwischen Hier und Dort, einige Autostunden östlich von Denver, in dieser stark landwirtschaftlich geprägten Prärielandschaft. Die Rocky Mountains befinden sich auf der anderen Seite des Bundesstaates.

Aber aus welcher Perspektive blickt man zu Beginn von Ein Sohn der Stadt auf das, was erzählt wird, und was man vor dem inneren Auge sieht? Sitzt man vielleicht selbst in dem roten Cadillac und betrachtet die Szenerie. Wenn, dann sicherlich mit Unbehagen, denn dieser auffallende Wagen fällt unangenehm auf, wird als typisches Auto eines Zuhälters bezeichnet. Oder nimmt man die Perspektive des Ich-Erzählers ein? Was aber nicht leicht ist, weil der sich im einleitenden Kapitel hinter einem noch diffus bleibenden Wir ziemlich versteckt hält und erst im zweiten Kapitel erste Informationen über sich selbst preisgibt. Oder bleibt man doch der außenstehende Betrachter, der sich verhält wie ein regelmäßiger Zoobesucher? Den, den es immer besonders zum Affenhaus zieht, um die Primaten zu beobachten, für die er große Sympathien hegt, eben weil er so viel Ähnlichkeit wahrnimmt und erkennt – und zugleich so viel Fremdes.

Es gehört zum Erzählstil Kent Harufs, ja man kann wohl auch sagen: zu seiner Erzählkunst, dass es ihm gelingt, diese Schwebe, diese Spannung aufrecht zu erhalten, wo man sich denn als Leser im Bezug zum Romangeschehen selbst verorten kann. Vielleicht lesen Harufs Landsleute das anders, erst recht die Einheimischen aus Colorado; mag sein, bei ihnen ist der Wiedererkennungseffekt beim Lesen ein anderer. Aus der räumlichen Distanz aber zwischen der Fiktion und dem Leser oder der Leserin entsteht – mag sein: gerade deshalb und nicht trotz allem – eine andere Form von Nähe, die bindet und zugleich befremdet.

Dabei ist es zunächst recht leicht, sich von der Figur, die eingeführt wird, zu distanzieren. Jack Burdette, dem dieses auffallende Auto gehört, erweist sich schon nach wenigen Zeilen als unerwünschter Heimkehrer. Alles andere als willkommen ist er aber nicht nur, weil er Dreck am Stecken hat, sondern auch und vielleicht sogar viel mehr, weil er die Holter Bürgerschaft an ihr eigenes Versagen erinnert.

Burdette war eine Kultfigur in der Gemeinde gewesen, so etwas wie der Liebling der Massen, jemand, den man bewunderte. Aber diese kollektive Bewunderung war von Beginn an nicht in der Person Burdettes begründbar, ja nicht einmal Ausdruck ihrer selbst, sondern Folge einer starken Furcht vor der Person. Das hatte schon in der Grundschule angefangen, als die Lehrer den Jungen in die nächste Jahrgangsstufe versetzten, nur um ihn loszuwerden, und setzte sich fort bis in die High School und die ersten Berufsjahre. Burdettes Werdegang wird vom Ich-Erzähler, der sich selbst eine Zeit lang als Freund sah und sich in dessen Dunstkreis bewegte, in einer Weise geschildert, die die Bewunderung offensichtlich macht. Diese Jahre, in denen sich dessen Nimbus festigte, mit etwas Distanz lesend mitzuverfolgen, macht aber schnell deutlich, dass all das, was er unternahm, auf Täuschung beruhte. Selbst seine allseits bewunderte „Karriere“ als Footballspieler kam – bei Lichte besehen – über unteres Mittelmaß nicht hinaus. Was seinem Ansehen in Holt aber keinen Abbruch tat. Als die Stelle für die Verwaltung und das Management der landwirtschaftlichen Kooperative frei wird, wird sie Burdette angetragen, obwohl er dafür keinerlei Qualifikationen aufweist.

Als Burdette mit unterschlagenen Geldern aus der Kooperative in sechsstelliger Dollarhöhe aus Holt flieht, hinterlässt er einen Scherbenhaufen. Er beraubt die Farmer und Rancher um ihre Rücklagen und bringt sie an den Rand des Ruins. Er lässt auch ohne zu zögern und vollkommen ohne Skrupel seine junge Frau Jessie mit den beiden Söhnen zurück. Sie steht nicht nur selbst vor dem materiellen Nichts, sondern muss auch noch den Zorn der Mitbürger ertragen, der sich gegen sie und ihre Kinder entlädt. Dieses ganze Desaster hätte man aber ahnen können, wären nicht alle diesem Typen so blind und ergeben hinterhergelaufen. Stattdessen fand man ihn grandios, und zwar auch noch, als er seine vormalige Freundin Wanda Jo, die ihn kopflos vergötterte, auf übelste Weise abservierte, um Hals über Kopf Jessie zu heiraten.

Das alles wird in einer großen Rückblende erzählt, und jetzt, acht Jahre später, ist Burdette wieder da, alt, fett geworden, mit einem unmöglichen Auto – und vor allem mit dem Wissen, dass seine Taten strafrechtlich verjährt sind. Daraus ergeben sich neue, geradezu dramatische, allemal sehr traurige Verwicklungen, aber die müssen hier nicht verraten werden.

Ohnehin ist es notwendig zu betonen, dass die bisherige Inhaltsskizze, dass aber auch eine ganze Reihe der insgesamt bisher eher spärlichen Besprechungen des Romans sowie der verlagseigene Klappentext den Eindruck entstehen lassen, Burdette sei die Hauptfigur des Romans. Genau das aber ist er nicht. Er ist in seiner amoralischen Eindimensionalität sogar eine eher langweilige Gestalt. Viel interessanter ist der Umgang der Holter Bevölkerung mit ihm, diesem Rattenfänger.

Als der eigentliche Protagonist erscheint doch im Laufe des Romans immer mehr der Ich-Erzähler Pat Arbuckle. Er bewegte sich eben nicht nur als Jugendlicher im Schlagschatten des Anderen; als Herausgeber der Lokalzeitung „Mercury Holt“ hat er auch Einblick in die Verwicklungen und ist am Ende wieder ganz persönlich betroffen. Er ist, wie anderweitig kritisiert, alles andere als eine blasse Figur. Seiner subjektiven und nicht immer zuverlässigen Sichtweise auf die Entwicklungen zu folgen, ist ungleich reizvoller als die Lebensgeschichte des Halbseidenen.

Daraus schöpft Ein Sohn der Stadt seine Sogkraft. Darüber zu debattieren, ob Kent Harufs in der Werkchronologie zweiter Roman (1990) den Autor noch nicht ganz auf der Höhe seines Schaffens zeige, erscheint vollkommen müßig, entfaltet er doch ein Erzählpanorama, das so eindrücklich wie unterhaltsam im besten Sinne erhellt, was Scharlatane anzurichten verstehen. Davon können auch dreißig Jahre nach dem Ersterscheinen von Ein Sohn der Stadt im eigenen Land nicht nur die Vereinigten Staaten ein leidvolles Lied singen. Gerade in diesen Zeiten!


Kent Haruf: Ein Sohn der Stadt. Roman. Aus dem Amerikanischen von pociao und Roberto de Hollanda. – Zürich: Diogenes Verlag 2021.

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