Gleich zwei norwegische Romane, die in diesem Jahr mit zeitlicher Verzögerung auf Deutsch erschienen, haben einen Verlagslektor als Hauptfigur. Jan Kjærstads Das Norman Areal (Norwegen 2011) erzählt vom Verhältnis von Lesen und Liebe, Ketil Bjørnstads Emma oder Das Ende der Welt (Norwegen 2012) vom Umgang mit unsagbarem Unglück und Trauer. Dass in beiden Romanen ein Lektor ins Zentrum rückt, der jeweils als Ich-Erzähler sein eigenes In-der-Welt-Sein beobachtet und bedenkt, mag Zufall sein oder ein eigentümliches norwegisches Moment beinhalten, ist vielleicht aber auch ein Symptom für Prototypisches. Der Lektor ist die bildungsbürgerliche Gestalt par excellence, die sich souverän in kulturellen Zusammenhängen bewegt, dabei aber immer im Hintergrund bleibt. Sie ist eine Person, die ohne Empathie für die eigene und die textuelle Umwelt ebenso wenig agieren kann wie ohne intellektuelle Distanz. Der Lektor ist klug, ist belesen, er sucht seinen Standpunkt immer in Auseinandersetzung mit literarischen Erfahrungen und ist deshalb auch für den Autor eine dankbare Figur, das eigene Schreiben im literarischen Kontext zu reflektieren, ohne dass es sich auf postmoderne Intertextualitätsspielchen beschränken würde. Wenn es sie nicht schon gibt, wäre eine literaturwissenschaftliche Untersuchung zur Figur des Lektors bestimmt ein lohnendes Unterfangen.
Dabei ist er zumindest in Bjørnstads Emma oder das Ende der Welt ein Mann in einer tieftraurigen Lebenssituation. Denn Aslak Timbereids neunjährige Tochter Emma ist bei einem Flugzeugunglück ums Leben gekommen. Die Verkettung unglücklich zusammentreffender Ereignisse hatten das Unglück verursacht. Schwere Sturmböen beim Anflug auf den kleinen Flughafen von Sandnessjøen in Nordnorwegen, Probleme beim Ausfahren des Flugzeugfahrwerks und das lange Zeit unerklärlich bleibende Versagen des Sicherheitsgurts, mit dem Emma angeschnallt war, hatten dazu geführt, dass sie aus ihrem Sitz geschleudert worden war und so unglücklich fiel, dass sie sich das Genick brach und wenige Tage nach dem Unfall starb. Das Kind war die einzige unter den Passagieren, die überhaupt verletzt worden war.
Eine zusätzliche tragische Spitze erhält dieser Tod durch die über das bloße unmittelbare Ereignis hinausgehende Gesamtlebenssituation. Denn das Mädchen war in Begleitung ihres Vaters in den Norden geflogen, um dort die Herbstferien bei ihrer Mutter zu verbringen. Die Ehe zwischen Aslak Timbereid und seiner Frau Hanne war recht kurz nach der Geburt des Kindes gescheitert. Hanne hatte die Familie in Oslo verlassen, um sich in ihrer Heimat in Nordnorwegen wieder verstärkt auf ihr Schreiben konzentrieren zu können. Sie ist eine durchaus bekannte Schriftstellerin; sie ist aber auch latent gefährdet durch Schübe manischer Depression. Einen gescheiterten Suizidversuch hat sie hinter sich. Nach Oslo zu fliegen, um ihr Kind abzuholen, sieht sie sich außerstande, so dass Aslak sich bereit erklärt, Emma zu begleiten und mit dem gleichen Flugzeug direkt wieder zurückzufliegen. Für seine Frau, das wird ihm auf dem Flug noch einmal klar, empfindet er mittlerweile einen ausgeprägten Hass:
Es ist nicht der Hass des Mesogynen, weil sie eine Frau ist. Sondern der Hass auf eine, die allen Platz auf der Welt einnehmen muss. Wie Jade allen Platz auf dem Schulhof einnehmen muss, versucht sie, allen Platz in der Literatur einzunehmen. Allen Platz einzunehmen, ob sie nun gesund ist oder krank, manisch oder depressiv. Sie, sie, sie. Ich, ich, ich. Und diese total selbstfixierte Autorin und Mutter eines Kindes, Hanne Lovund, ist es also, deren Wunsch ich hier erfülle, denke ich, indem ich im Flugzeug sitze, absolut freiwillig, damit unsere Tochter eine Woche mit ihr verbringen kann.
Es sind Gedanken und Empfindungen vor dem Unglück, die uns der Ich-Erzähler hier vermittelt, aber es sind Gedanken, die in ihrer Wirkung über den Tod Emmas hinausreichen. Wie kann man umgehen, mit dem Verlust des eigenen Kindes, wie kann man selbst leben nach dessen Tod? Das ist die zentrale Frage des Ich-Erzählers, der er über einen Zeitraum von rund neun Monaten nachgeht, und in der seine Frau und die erwähnte Jade eine zentrale Rolle spielen.
Hanne kommt nach dem Tod Emmas nach Oslo zurück, weil sie es in der Nähe ihrer alkoholkranken Mutter im Norden nicht aushält, und zieht wieder bei ihrem Mann ein, der das relativ passiv geschehen lässt. Denn der hat genug mit sich zu tun. Dabei fokussieren sich seine Gedanken immer mehr auf eine Mitschülerin Emmas, Jade. Dieses Mädchen hatte es offensichtlich darauf angelegt, das eigene Ansehen in der Klasse und in der Schule durch systematisch betriebene Ausgrenzung Emmas zu festigen. Emma wurde, um es auf einen landläufigen Begriff zu bringen, von ihr gemobbt. Bjørnstad gelingt es innerhalb dieses Erzählstrangs ein sehr schonungsloses und kritisches Bild pädagogisch ziemlich blinder Leistungsorientierung im norwegischen Schulsystem zu entwerfen. Aber Aslak Timbereids Fixierung auf dieses Mädchen erscheint zugleich als Ventil seiner hilflosen Trauer. Auf einer Trauerfeier, die die Schulgemeinde nach dem Tod Emmas veranstaltet – ja „veranstaltet“, anders kann man es nicht nennen, denn es geht viel weniger um das verstorbene Mädchen als um den Umstand, nach außen in die Öffentlichkeit hinein seine Betroffenheit zu zeigen – also: Auf dieser Trauerfeier ergreift Aslak das Wort und rechnet mit Jade schonungslos ab. Der Eklat ist vorprogrammiert.
Hanne, deren Tun und Lassen der Ich-Erzähler mit ebensolcher Sorge wie zugleich mit Befremden verfolgt, sucht zugleich einen anderen Weg, mit dem Schicksalsschlag umzugehen. Ihre Aufmerksamkeit gehört der Pilotin der Unglücksmaschine, um die sie ein immer enger werdendes Netz von Nachverfolgungsmechanismen aufbaut. Auch hier kommt er zu einer dramatischen Zuspitzung. Die Figur der der Hanne bleibt aber insgesamt zu diffus, zu sehr eine Gestalt, die wie durch eine Milchglasscheibe betrachtet wird, als dass dieser Erzählstrang wirklich packen könnte.
Aslaks Bewältigungsversuche aber nehmen den Leser mit, lassen ihn teilhaben an dessen Trauerarbeit in einer Intensität, die zumindest passagenweise dem Erzählen und Erzählten im Romanvorgänger Die Unsterblichen (2011; dt. 2014) in Nichts nachsteht. Am Ende, wie gesagt rund neun Monate später hat er sich freigestrampelt, irgendwie. Auch Hanne ist zurückgekehrt nach Sandnessjøen.
Ich dachte, dass das Leben auf jeden Fall weitergehen müsste. Dass wir einen Schlussstrich ziehen müssten. Dass wir eine Verpflichtung hätten. Dass wir Menschen wie die blanken Sandkörner zurechtgefeilt werden müssten, die am Strand bei Alstahaug liegen und in der Nacht zum Himmel hochfunkeln […] Zum ersten Mal seit Emmas Tod wagte ich, an die Zukunft zu denken.
Das hört sich versöhnlich an, zuversichtlich, mag sein um den Preis, die gewonnene Aufbruchsdenken unter Kitschverdacht zu stellen. Aber die entscheidende Information steht in den Auslassungszeichen. Arveid Timberleid denkt diese Worte und Sätze „am Vormittag des 22. Juli 2011“, ein Datum, mit dem wahrscheinlich fast jeder Norweger sofort und spontan die Attentate von Oslo und Utøya verbindet. Vor diesem Hintergrund lesen sich nicht nur die zitierten Aussagen neu und anders, der ganze Roman verändert die Perspektive auf das, was erzählt wurde. Man kann ihn daraufhin ein zweites Mal lesen, eine Lektüre, die auch dann noch lohnt.
Ketil Bjørnstad: Emma oder Das Ende der Welt. Roman. Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs und Kerstin Reimers. – Hamburg: Osburg Verlag 2017 (20.- €)
Bildnachweis
Der Hintergrund des Beitragsbildes zeigt eine Landschaft in Nordnorwegen (Pixabay).