Emmanuelle Pirotte: Heute leben wir

Pirotte, Heute leben wir

Ein Begleiter des Euregio-Schüler-Literaturpreises von Beginn an bin ich nicht, aber ich verfolge ihn seit Jahren, meist lesend, ab und an auch Veranstaltungen besuchend. Unter den zahlreichen und durchweg sinnvollen Literaturpreisen in unserem Land ist er mir letztlich der liebste. Nicht einmal in erster Linie, weil er den regionalen Bezug zu meinem Lebensraum, zu meiner Heimat hat, sondern weil er von Schülerinnen und Schülern vergeben wird. Jahr für Jahr lesen zahlreiche Jugendliche weiterführender Schulen in der Euregio, also aus der Region rund um Aachen, Lüttich und Maastricht, jeweils zwei Romane aus dem Französischen, dem Niederländischen und aus dem deutschsprachigen Raum und sie ringen mit großem Engagement und im intensiven Austausch miteinander um Argumente, den für sie besten Roman küren zu können. Wenn das kein Beitrag zur literarischen Erziehung ist, dann weiß ich es nicht.

Damit dergleichen mit Schülerinnen und Schülern in einem solch großen Rahmen möglich ist, bedarf es einer guten Organisation und einer stabilen Infrastruktur, die vom Verein EuregioKultur e.V. in bewundernswerter Weise geplant und bereit gestellt wird. Dazu gehört aber auch, dass es eine Vorauswahl der sechs Bücher des Jahres geben muss, nicht zuletzt, weil es Länder- und Sprachgrenzen gibt, die zu berücksichtigen  sind. Außerdem müssen die Texte in der jeweiligen Landessprache vorliegen. Trotz der damit einhergehenden Einschränkungen liest sich die Liste der Preisträger seit 2002, dem Jahr der Erstverleihung des Preises, streckenweise wie das Who is Who französischsprachiger, niederländischer und deutscher Gegenwartsliteratur. Nominierte und  (zumindest in einem Fall) ausgezeichnete Romane von Stephan Enter, Joachim Meyerhoff, Jean-Christophe Rufin und Benedict Wells habe ich hier auf dem Blog vorgestellt. Nicht alle Romane, die vorausgewählt wurden, überzeugten mich gleichermaßen, wie könnte das auch sein. Aber dass sie in die Vorauswahl für den Euregio-Schüler-Literaturpreis genommen wurden, leuchtete stets ein.

Umso mehr bedauere ich, dass ich zum ersten Mal im Zusammenhang dieses Preises auf ein Buch hinweise, dass ich für einen wirklichen Fehlgriff halte. Damit komme ich nach langem Anlauf zu Emmanuelle Pirottes Romans Heute leben wir.

Der Handlungsrahmen

Die Romanhandlung ist zeitlich und räumlich eingebettet in die Ardennenoffensive der deutschen Truppen in der zweiten Dezemberhälfte 1944. Sie bedeutete das letzte Aufbäumen von Hitlers Armee vor dem Andrängen der westlichen Alliierten. Diese Militäraktion führte kurzfristig dazu, dass die NS-Verbände, die schon auf Reichsgebiet zurückgedrängt worden waren, noch einmal nach Belgien vorstoßen konnten. In dieser Zeit wechselten entlang des Frontverlaufs zum Teil mehrfach die Besatzungstruppen. Mal wurde die Zivilbevölkerung, die massiv unter den Schlachten zu leiden hatte, mit US-Soldaten konfrontiert, mal rückten die Deutschen wieder als Besatzer vor. Mit welchen Opfern, mit welchen Gräueln dieses Hin und Her verbunden war, kann man auf beklemmende Weise in Antony Beevers historischer Studie Die Ardennen-Offensive 1944 (deutsch 2016) nachlesen.

Der Roman beginnt in einem nicht näher bezeichneten Dorf in den Ardennen dann auch genau zu dem Zeitpunkt, als die Deutschen wieder einrücken. Eine Familie dort in dem Dorf hatte aber ein jüdisches Mädchen bei sich aufgenommen, das anders als dessen Eltern der Deportation entgangen war. Nun aber fürchtet man, das siebenjährige Kind nicht mehr schützen zu können, und bittet den Pfarrer um Hilfe, der das Mädchen zur Flucht verhelfen will. Als die Deutschen ins Dorf einziehen, flieht er mit dem Kind in den Wald und trifft schließlich auf zwei GIs in einem Jeep, denen er das Kind übergibt, in der Hoffnung, sie könnten es von der Frontlinie wegbringen.

Hier nun greift ein weiteres historisch verbürgtes und ohne Zweifel sauber recherchiertes Moment in die Erzählung ein. Zur Planung und Umsetzung der Ardennenoffensive gehörte das sogenannte Unternehmen Greif, das von einem SS-Obersturmbannführer namens Skorzeny befehligt wurde. Speziell ausgebildete SS-Leute wurden als verkleidete GIs hinter die Front geschleust mit dem Auftrag, zu spionieren und gezielte Sabotageakte durchzuführen. Diese Aktion hatte letztlich keinen Erfolg; das aber spielt für den Roman keine Rolle. Der Zufall will es, dass der Pfarrer ahnungslos zwei deutschen SS-Leuten das Kind übergeben hat, die sich getarnt bei amerikanischen Truppenverbänden befinden. Als die beiden Männer mit dem Kind in ein Waldstück fahren in der Absicht das Mädchen dort zu erschießen, geschieht das Unglaubliche. Einer der SS-Männer erschießt nicht das Mädchen, sondern seinen Kameraden und fühlt sich fortan in sonderbarer Weise Renée, so heißt die Siebenjährige, verbunden.

Erzählerische Ausgestaltung

Damit beginnt das Dilemma des Romans. Die Anziehung und Bindung der beiden Figuren aneinander ist eine wechselseitige, die im Laufe der folgenden Handlung immer enger wird. Motiviert aber wird sie an keiner Stelle. Freilich, Literatur muss nicht alles erklären und erläutern. Es ist nicht selten das Verschweigen, das erhellt, das eine Sichtweise, ja auch einen unbegreiflichen Zauber schafft, den das Benennen nicht herstellen kann. Aber Verschweigen ist etwas anders Behaupten. Auf der Handlungsebene des Romans geschieht aber letzteres permanent, während ersteres vollkommen ausbleibt.

Darüber hinaus ist dieser Roman auch erzählerisch schwach, sowohl strukturell wie auch sprachlich. Da befindet sich eine Gruppe von GIs, darunter auch der inkognito operierende Matthias und das Mädchen, bei Bauern auf einem Gehöft. Da Weihnachten ist, möchte man ein wenig feiern, weiß aber zugleich, dass sich die Deutschen in der Nähe befinden. Um der Gefahr zu entgehen, entdeckt zu werden, zieht man sich in die Kellerräume des Gebäudes zurück, macht dort aber so viel Lärm, das man sich als Leser fragt, warum sie nicht im Erdgeschoss geblieben sind. Der Erzähler aber hat diese Problematik überhaupt nicht im Blick.

Ein weiteres Beispiel: Gegen Ende des Romans, als es auf den Höhepunkt zugeht, wird Matthias enttarnt, angeschossen und lebensgefährlich verletzt. Trotzdem gelingt es mit Hilfe Renées zu fliehen.

Matthias hatte es geschafft, Salomon [das ist das Pferd] bis zu Jules‘ Hütte zu führen. Vor der Schwelle war er vom Pferd gerutscht und ins Koma gefallen. Er triefte vor Schweiß, bekam Anfälle von Schüttelfrost. Renée versuchte, ihn zu wecken, sie rief ihn, kühlte sein Gesicht mit Schnee, vergeblich. […] Sie rüttelte Matthias‘ Körper, schrie seinen Namen. Schließlich ohrfeigte sie ihn aus schierer Verzweiflung. Er wachte auf und schleppte sich zu der alten Matratze vor dem Kamin. Renée machte Feuer, deckte ihm den Oberkörper mit ihrem kleinen Mantel zu. Sie holte Wasser von der Quelle und versuchte, es ihm einzuflößen. Aber er war vollkommen bewusstlos, sein Kopf zu schwer für ihre Hände.

Man mag noch darüber streiten, ob man die Symptome, die die Figur nach seinem Zusammenbruch zeigt, tatsächlich als „Koma“ bezeichnen kann oder ob nicht die Formulierung, er sei ohnmächtig geworden, in angemessenerer Form eine niederschwelligere Bewusstseinstrübung beschreiben würde. Denn immerhin wird der Mann aufgrund der Interventionen des Kindes wieder wach und kann sich in die Hütte an den Kamin schleppen, um dort wieder ohnmächtig zu werden. Fraglich ist aber, ob er in der Zeitspanne, die hier erzählt wird, tatsächlich „Anfälle“ (Plural) von Schüttelfrost bekommen kann oder ob es nicht vielmehr (numerisch) eine Schüttelfrostattacke ist, die ihn angreift. Und was in aller Welt hat das Adjektivattribut „vollkommen“ im Zusammenhang mit der näheren Beschreibung einer Bewusstlosigkeit verloren?  Kann man auch weniger als vollkommen bewusstlos sein? Der eine oder andere mag nun den Eindruck allzu großer Pedanterie gewinnen. Aber was hier als Einzelfall herausgestellt wird, zieht sich in Variationen gehäuft durch den gesamten Roman.

Damit ist das größte Problem noch nicht einmal erwähnt. Das liegt auch nicht in der erzählerischen Gestaltung der Mädchenfigur, die, wenn man sich ihr Verhalten vor Augen führt, alles mögliche ist, aber sicher nicht, wie behauptet, sieben Jahre alt. Wirklich problematisch ist die Figurenkonzeption des männlichen Protagonisten Matthias. Dieser SS-Mann hat zunächst eine ganz eigene Biographie, die in Rückblenden immer wieder eingestreut wird. Er hatte, nachdem seine – so heißt es – große und einzige Liebe gescheitert war, Mitte der 30er Jahre Deutschland verlassen und eine Zeit lang in den Wäldern Quebecs gelebt. Dort war er von Cree-Indianern nach einem Bootsunfall, der ihm fast das Leben gekostet hatte, gepflegt worden, hatte mit ihnen zusammengelebt und dabei deren Verhältnis zur Natur kennen und schätzen gelernt. Nach seiner Rückkehr nach Deutschland gerät er eher zufällig in Kontakt mit diesem Skorzeny, lässt sich für das Unternehmen Greif anwerben und zum Elitesoldaten ausbilden. Dabei zeigt sich, dass er eigentlich mit der NS-Rassenideologie nichts am Hut hatte und sie, bevor er Deutschland verließ, sogar eher bespöttelte. Er selbst bezeichnet sich einmal als „übertrainiertes Kriegstier“, eine hochtrainierte, menschliche Killermaschine, als die er sich auch erweist. In dem Zeitraum, in dem der Roman spielt, bringt er eine immens hohe Zahl von Menschen um.

Das tut er ohne Skrupel, denn er hat überhaupt keine moralischen Kategorien, an die er sein Handeln ausrichten könnte. Deshalb bleibt auch seine Fürsorge für Renée so unglaubwürdig. Einmal taucht in einem seiner Erinnerungsbilder kanadisches Rotwild auf, auf das er mit dem Gewehr anlegt, aber nicht abdrücken kann. Als dieses Bild verschwindet, steht Renée vor ihm. Einer der Cree, so erinnert er sich dann weiter, habe ihm gesagt, dass man ein Tier nur erlegen könne, wenn es bereit dazu sei. Ansonsten müsse man der Würde der Natur Rechnung tragen und sich davor verneigen. Mit Verlaub, das ist Kitsch, in der symbolischen Analogiebildung zwischen Jagd und Menschentötung ganz gefährlicher Kitsch.

Dabei darf gerade in diesem Zusammenhang nicht vergessen werden, dass die Figur des Matthias in keiner Weise kritisch dargestellt wird. Die Tötung von Menschen erscheint durchaus mit innerer Logik und Notwendigkeit, durch den Krieg insgesamt oder durch die konkrete Situation bedingt. Gleichzeitig bekommt die Figur Heldenstatus. Er ist ein Kämpfer, er nimmt sich ja des jüdischen Mädchens an, er rettet es schließlich. Es gibt, da verrät man nicht zu viel, schließlich ein (fast schon unerträglich kitschiges) Happy End.

Schluss, ich höre hier auf. Schülerinnen und Schüler können diesen Roman lesen, natürlich. Doch sie sollten versierte, die Fallstricke wahrnehmende Leserinnen und Leser sein. Ansonsten kann man nur hoffen, dass sie in ihrer Lektüre eine Lehrperson begleitet, die ihnen die notwendige Sensibilität für das höchst Problematische dieses Romans zu entwickeln hilft. In der Auswahl für einen Literaturpreis hat Heute leben wir nichts, aber auch gar nichts verloren.


Emmanuelle Pirotte: Heute leben wir. Roman. Aus dem Französischen von Grete Osterwald. – Frankfurt/M.: S. Fischer Verlag 2017 (20.- €)

Ergänzender bibliographischer Nachweis zu Antony Beever: Die Ardennen-Offensive 1944. Hitlers letzte Schlacht im Westen. Aus dem Englischen von Helmut Ettinger. – München: C. Bertelsmann Verlag 2016 (26.- €)

 

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