You are currently viewing Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch

Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch

Quelle: By Juan M Romero (Own work) [CC BY-SA 4. (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], via Wikimedia CommonsDie Pietà ist in der christlichen Bildkunst das Sujet, das am intensivsten den Schmerz und die Trauer der Mutter verkörpert, die ihr verstorbenes Kind beweint. Bis in mittelalterliche Vesperbilder zurückreichend ist der Aufbau der Bilder und Skulpturen nahezu identisch. Der verstorbene, gerade von Kreuz genommene Christus wird in den Schoß der Mutter gelegt oder liegt dort schon. Die bekannteste Pietà ist vielleicht die sogenannte „römische“ des Michelangelo, die um 1500 herum entstand. Sie reduziert das Geschehen auf die unmittelbare und durch keine Zeugenschaft Dritter verstellte Mutter-Sohn-Beziehung und erzeugt wohl auch dadurch diese ungeheuere Wucht an Trauer, die dem Betrachter hier entgegenschlägt.

Mit der Herstellung eines solchen Leidensausdrucks beginnt auch Hans-Ulrich Treichels Erzählung Tagesanbruch. Dabei ist es der Ich-Erzählerin offensichtlich ein Anliegen, sich die Pietà-Situation bewusst zu machen und zugleich beim Leser wachzurufen. Im Laufe ihrer Schilderung nennt sie sich selbst einmal in Anspielung an christliche Marienvorstellungen „Mutter der Mütter“. Vor allem aber begibt sie sich gleich zu Beginn in die Haltung der trauernden Mutter mit dem Sohn auf den Schoß hinein. Ihr Sohn ist gerade verstorben, sie erinnert sich, dass er immer gefroren habe, um dann die konkrete Situation zu schildern, in der sie sich jetzt befindet:

So wie es ja auch in den letzten Monaten kein Problem war, da habe ich durchgeheizt, dir zuliebe, dem Kranken zuliebe, und fast imer auf drei, den ganzen Sommer hindurch und bis heute Nacht, bis ich dich hochgehoben und auf meinen Schoß gezogen habe, wo du immer noch liegst. Es machte mir keine Mühe, so leicht wie du bist. Federleicht. Ein Fliegengewicht. Nur dein Kopf ist schwer. So schwer, dass ich ihn halten muss, so wie ich es früher auch getan habe, um dir zu trinken zu geben. Und wie du getrunken hast!

Eine auf den ersten Blick bizarre Konstellation, die zu erzählen eigentlich keinen Sinn macht, denn man erlebt sie ja. Es sei denn, mal will sie ganz bewusst werden lassen. Da liegt der an Krebs verstorbene Sohn an der Mutterbrust. Abschied und Ablösung werden ineins gerückt mit dem Stillen, einer Mutter-Kind-Nähe, die intensiver kaum sein kann. Sie entspricht aber nicht dem, was das Verhältnis zwischen Mutter und Sohn tatsächlich prägte. Rückblickend erscheint die inszenierte Situation eher als eine ziemlich vergebliche Kompensation.

Treichel, TagesanbruchTrotzdem startet so diese Erzählung mit einem eindringlichen Bild fulminant. Beeindruckend setzt sie sich fort, auch wenn der Sohn gar nicht so sehr in den Vordergrund rückt wie man aufgrund der Eingangsszene vielleicht erwarten würde. Im Gegenteil: eigentlich erfährt man sogar recht wenig über dessen Leben. Das zeigt aber nur, dass die Frau gar nicht so viel über ihren Sohn weiß, dass er ihr eigentlich recht fremd ist. Er ist das einzige Kind des Ehepaars geblieben, wuchs in einer bürgerlichen Umgebung auf, konnte offensichtlich studieren und an der Universität bleiben, wo er im akademischen Mittelbau arbeitete, bis er an Leberkrebs erkrankte und schließlich daran verstarb. Gepflegt wurde er am Ende von seiner Mutter, eine Liebesbeziehung gab es anscheinend nicht.

Im Mittelpunkt des Erzählens steht, wie gesagt, aber auch nicht der Sohn, sondern die Ich-Erzählerin selbst, die nun in der Lage ist, ihre eigene Lebensgeschichte aufzuarbeiten. Man hat zurecht festgehalten, dass Treichel wieder seine Lebensthemen literarisch ausbreitet: Flucht, Vertreibung, das Leben in der bundesrepublikanischen Nachkriegszeit, Familienkonstellation. So weit ich Treichels Prosawerk kenne, kann ich diese Hinweise nachvollziehen; sie sagen aber wenig aus über die literarische Qualität der vorliegenden Erzählung. Denn egal wie sich der Text mit den übrigen Büchern Treichels thematisch verzahnt, bleibt doch die Lebensgeschichte dieser Frau ein beeindruckendes Dokument seelischer Zurichtungen und am Ende zugleich der Befreiung aus solchen Lebenszwängen, zumindest ein Stück weit.

Denn der Frau gelingt es im Erzählen, über den Schatten des Unaussprechlichen zu springen. Sagt sie zu Beginn ihrer Rede noch, es gebe Dinge, die man „sogar den Toten“ verschweige, so wird sie am Ende alles Bedrängende erzählt haben; und mehr als das, sie hat es aufgeschrieben. Die Erzählung ist in zwei Teile aufgeteilt, zwischen denen sich eine fast unmerkliche Akzentverschiebung ereignet. Denn im zweiten Teil liegt ihr toten Sohn nicht mehr in ihrem Schoß, sondern, mit deutlichen Signalen einer inneren Distanzierung der Mutter, „dort auf dem Bett“. Sie spricht nicht mehr unmittelbar zu dem Leichnam, sondern sie schreibt ihre Geschichte nun auf, hält sie fest, macht sie, jenseits des bloß mündlichen Berichtens, vergessensresistent. Dazu braucht sie einen gewissen Anlauf und kommt zum Entscheidenden erst, nachdem sie ihren Sohn auf das Bett zurückgelegt hat, nachdem sie dazu übergegangen ist, ihre Geschichte aufzuschreiben.

Zuvor erzählte sie von der Ehe mit ihrem kriegsversehrten Mann, der einen Arm verloren hatte, und mit dem sie deshalb nur ein Geschäft für Arbeitskleidung aufbauen und führen konnte. Er sei ja nicht in der Lage gewesen, den Kunden bei der Anprobe in Jacke und Mantel zu helfen. Sie berichtete von den Schwierigkeiten des Geschäftsaufbaus in der Nachkriegszeit, den Problemen der Ehe, dem bescheidenen Wohlstand, den Anstrengungen, dem Kind eine bürgerlich situierte Bildung zu ermöglichen. Dazu wurde mit erheblicher finanzieller Anstregung ein Klavier gekauft, für das sich der Sohn dann aber schließlich nur mäßig erwärmen konnte. All das ist gut erzählt und mit viel Sinn für Empathie, aber es ereignet sich bei aller Härte des Alltags nichts, das dem Leser nun neu oder in besonderer Weise bemerkenswert erscheinen würde.

Das Bemerkenswerte liegt in den schicksalhaften Ereignissen der Flucht aus Polen vor der Roten Armee, die dieses Leben in seine zukünftigen Bahnen zwang. Im Januar 1945 befindet sie sich mit ihrem Mann in einem Flüchtlingstreck gen Westen in der Nähe der polnischen Stadt Konin. Die beiden werden von drei russischen Soldaten aus dem Treck herausgeholt und in einen Wald gebracht. Dort wird die Frau vor den Augen ihres Mannes von den Soldaten vergewaltigt. Anschließend lässt man sie in dem Wald zurück. Sie überleben, können ihre Flucht in den Westen fortsetzen. Aber …

Obwohl mein Mann und ich uns seit diesem Ereignis näher denn je waren, geradezu miteinander verschweißt, sind wir uns seit diesem Tag im Januar 1945 zugleich auf schmerzliche Weise fremd geworden, um nicht zu sagen: verloren gegangen. Miteinander verschweißt und füreinander verloren. Wir haben es beide gespürt und nie darüber gesprochen. Weder damals noch später. Man kann nicht alles aussprechen.

Das Trauma setzt Handlungsabsichten frei, die man als Leser vielleicht verstehen, sicher nicht nachempfinden kann. Kaum etwas wäre vermessener. Die Frau treibt in den Tagen danach der Wunsch, mit ihrem Mann zu schlafen, was ihr bei nächster Gelegenheit auch gelingt. Was sie aber dazu treibt, ist allein die Angst vor einer Schwangerschaft; und sie will sich zumindest die Möglichkeit bewahren, ihr Mann könne der Vater des Kindes sein. Sie schläft mit ihrem Mann, sie wird schwanger. Beiläufig wurde zuvor schon erwähnt, dass der Junge seinem Vater ähnlich sehe. Aber mit dem Wissen um die Vergewaltigung wird das Empfinden für eine opake Ungewissheit, die das Verhältnis der Eltern zu ihrem Kind durch all die Jahre begleitet, rückblickend greifbar. So entsteht eine Familienkonstellation, aus der niemand herauskommt. Ahnungen steigen auf. Ist das der Grund, warum es bei dem einen Kind geblieben ist? Liegt hier der Grund dafür, dass das Leben des Sohnes beziehungslos gewesen zu sein scheint, dass es zumindest keine Liebesbeziehung gab, die der Mutter in ihrer Trauererinnerung erwähneswert erscheint?

Treichels kurze, nur 86 Seiten lange, aber eindringliche Erzählung, die man aufgrund des nun wahrlich unerhörten Ereignisses, das im Laufe der Geschichte aufgedeckt wird, als Novelle bezeichnen könnte, geht tief hinein in die Strukturen der Familie. Es ist gerade diese Tiefe, die deren merkwürdige Äußerlichkeit in den Beziehungen in ihren Ursachen hervortreten lässt. Sie führt ein erschütterndes Frauen- und Familienschicksal vor und sie sensibilisiert den Leser eindringlich für das Hinter- und Untergründige, das, auf je unterschiedliche Weise, unser aller Leben eigen ist.


Hans-Ulrich Treichel: Tagesanbruch. – Berlin: Suhrkamp Verlag 2016 (17,95 €)

Nachgelesenes

Hinweis zur Bildquelle der Pietà des Michelangelo: By Juan M Romero (Own work) [CC BY-SA 4.0 (http://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0)], via Wikimedia Commons

Auch die Blogs Kulturgeschwätz, literaturleuchtet, Das graue Sofa und Leselupe haben Hans-Ulrich Treichels Erzählung Tagesanbruch vorgestellt. Sollte ich ansonsten jemanden übersehen haben, bitte ich um Nachsicht und Nachricht.