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Henning Mankell: Der Verrückte

Winter ist die vorherrschende Jahreszeit im Roman. Es gibt zwar Erzählpassagen, die in den übrigen Monaten spielen, aber die meiste Zeit ist es kalt, sehr kalt. Schneeiger und eisiger Untergrund bildet den Boden, auf dem sich die Menschen bewegen. Ohne dass es erzählmotivisch übertrieben würde, kann man dennoch beobachten, dass sie auffallend oft ausrutschen und den Halt verlieren. Das hat etwas dezent Metaphorisches. Außerdem wird gesoffen. Trotz des einen oder anderen Katers, der festgehalten wird, ist es aber nicht der Alkohol, der die Trinkgewohnheiten kennzeichnet. Nein, es ist der Kaffee, der anscheinend bei jeder Gelegenheit und in großen Mengen konsumiert wird.

In Norrland, dem nördlichsten der drei Landesteile Schwedens, ist die Handlung verortet. In einer Kleinstadt, die ab und an auch nur als Marktweiler bezeichnet wird. Immerhin aber hat sie einen Rangierbahnhof, an dem der Roman beginnt und schließlich auch wieder endet. Der Ort liegt offensichtlich nicht in Küstennähe und ist umgeben von riesigen Waldflächen. Der Weg von Stockholm dorthin ist beschwerlich und dauert trotz der Eisenbahnanbindung lange. Genauer zu lokalisieren ist der Ort jedoch nicht. Ob Henning Mankell beim Schreiben des Romans seine Zeit und seine Erfahrung aus seiner Kindheit in Sveg hat einfließen lassen, lässt sich an der einen oder anderen Stelle vermuten, spielt aber keine Rolle. Denn je weniger Realbezug diese Stadt hat, desto prototypischer wirkt sie in ihren Strukturen und Verhältnissen. Gerade darauf aber scheint es dem Erzähler anzukommen.

Ein solcher Erzähler tritt zu Beginn des Romans auch als Figur auf. Er scheint seine (spätere) Hauptfigur gekannt zu haben, diesen Bertil Kras. Er erinnert sich an ihn als offensichtlich mental gestörten und verhaltensauffälligen Mann, der sich immer zwischen den Waggons am Rangierbahnhof aufhält, ohne dass dem Leser zu diesem Zeitpunkt die Zusammenhänge schon verständlich werden. Klar ist aber, der Erzähler möchte die Geschichte dieses Mannes erzählen.

Um diese aber in ihren Zusammenhängen deutlicher werden zu lassen, bedarf es der erzählerischen Erläuterung einer weiteren, sehr unrühmlichen Geschichte dieses Ortes. Während des Zweiten Weltkriegs war es dem schwedischen Staat trotz aller Bekundung, sich politisch neutral zu verhalten, daran gelegen, es sich mit den Nationalsozialisten nicht zu verscherzen. Mehr noch: Es gab weitreichende ideologische Sympathien für den NS-Staat in weiten Teilen der schwedischen Bevölkerung, insbesondere des politischen Establishments. Dieser bittere Zusammenhang ist historisch verbürgt. Er bildet zudem einen thematischen roten Faden durch das gesamte Oeuvre Mankells. Zu den politischen Maßnahmen, die Anfang der 40er Jahre getroffen wurden, gehörte unter anderem die Einrichtung von Internierungslagern, in denen Kommunisten gefangen gehalten wurden, was auch immer man sich von diesem menschenverachtenden Kotau vor den Nazis versprochen haben mag. Am Ende des Krieges wurden sie flugs aufgelöst, und die Schweden zeigten in der Folge, wie hierzulande nicht anders, einen ausgeprägten Hang zum Verdrängen und Vergessen.

Ein solches Internierungslager gab es auch irgendwo in den Wäldern rund um diese norrländische Kleinstadt. In einer episodenhaften Passage wird gleich zu Beginn erzählt, in welcher Weise einige Personen in die Verhaftungen und in den Betrieb des Internierungslagers involviert waren. 1947, also unmittelbar nach dem Krieg, kommt nun die Hauptfigur Bertil Kras in diese Stadt, nachdem in Stockholm seine Mutter verstorben ist, er seine Arbeitsstelle aufgegeben hat und andernorts einen Neuanfang sucht. Dass es ihn dorthin nach Norrland verschlägt, ist letztlich Zufall. Mit den Vorfällen in der Kriegszeit hat er nichts zu tun.

Bertil Kras ist allerdings ein politischer Mensch und überzeugter Kommunist. Arbeit findet er im ortsansässigen Sägewerk, dem größten Arbeitgeber, lernt bald eine alleinerziehende junge Frau kennen und bildet mit ihr eine Familie. Er findet zudem raschen Kontakt zu den Kommunisten, die trotz allem nach dem Krieg im Ort geblieben sind. Neben ihrer politischen Überzeugung verbindet sie das Ziel, dieses aufgelöste Internierungslager nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Damit ist der Konflikt mit weiten Teilen der Kleinstadtbevölkerung angelegt.

Dass dabei insbesondere Bertil Kras in die Schusslinie gerät, kann man nicht mit einem „obwohl“ – er gehörte ja während des Krieges nicht zu den Opfern – im Unerklärlichen belassen, sondern muss es mit einem „gerade weil“ beantworten. Gerade weil er von außen in diese kleinstädtischen Verhältnisse kommt, gerade weil er unbekannt ist, gerade weil seine Herkunft im Dunkeln bleibt, ist er das prädestinierte Opfer für Ausgrenzung, Bedrohung, Gewalt.

Im Laufe des Romans kommt es nicht nur zu physischen Attacken auf ihn, zu Anschlägen, die sein Leben gefährden. Er wird auch trotz fehlender Beweise und höchst fragwürdiger Indizienlage zum Hauptverdächtigen, als das ortsansässige Sägewerk restlos abbrennt. Dass es sich dabei um Brandstiftung handelt, wird recht schnell klar. Spuren, die auf eine ganz andere Täterschaft als die von Bertil Kras deuten, werden aber sorgfältig unter den Teppich gekehrt. Als die wachsende Bedrohung und die zunehmende Ausgrenzung schließlich auch Bertils kleine Familie auseinanderreißt, weil seine Lebenspartnerin den Druck nicht mehr aushalten kann, bricht er psychisch zusammen und wird tatsächlich zu dem, als der er schon sehr früh im Roman von einigen Einheimischen bezeichnet wird: zum Verrückten.

Der Verrückte erschien in Schweden vor über vierzig Jahren, 1977. Ideologisch ist er eine Abrechnung mit dem sich nach dem Krieg entwickelnden Wohlfahrtsstaat in Schweden in der Tradition der Volksheim-Ideologie aus den dreißiger Jahren. Mankells Kritik, vor allem auch an der schwedischen Sozialdemokratie, ist aber weniger kommunistisch geprägt als vielmehr Ausdruck eines radikalen Moralismus, der das Leben und Schreiben Mankells bis zu seinem Tod 2015 ausmachte.

Festzustellen, der Roman zeige nur das Potenzial, das das spätere Schreiben Henning Mankells geprägt habe, würde ihm ein großes Stück weit Unrecht tun. Er hat seine Schwächen, so etwa ab und an die Neigung, nun auch jede Ecke erzählerisch ausleuchten zu wollen und dadurch die eine oder andere Länge zu erzeugen. Im Eingangskapitel installiert er, wie erwähnt, einen Ich-Erzähler als Handlungsfigur, der dann keine Rolle mehr spielt, und müht sich etwas unbeholfen daran ab, die Geschichte des Internierungslagers der Romanhandlung vorzuschalten statt sie zu integrieren. Aber es gelingt ihm zugleich, die Figuren in ihrem Auftreten und ihrem Verhalten sehr plastisch werden zu lassen. Mankell produziert keine Stereotype und schafft es trotzdem, die Verhältnisse in der Stadt in ihrem Prototypischen zu erhellen. Da scheint im Einzelschicksal sehr viel Allgemeines auf.

Wenn der Zsolnay Verlag im Klappentext Der Verrückte den Leserinnen und Lesern als „frühen Spannungsroman“ anpreist, dann ist das verkaufsstrategisch sicher legitim, weil man so die Verbindung zum international erfolgreichen Krimiautor schlägt. Die Qualität des Romans aber liegt viel mehr in der Darstellung sozialer Verhältnisse. Auch das kann spannend sein, aber dann wird der Begriff beliebig. Der Verrückte ist, so viel darf man am Ende konstatieren, ein durchweg gelungener Sozialroman. Er erinnert ein wenig an die frühen Romane Heinrich Bölls, nur ohne Katholizismus. Eine solche Assoziation geweckt zu haben, sollte durchaus als Kompliment verstanden werden.


Henning Mankell: Der Verrückte. Roman. Aus dem Schwedischen von Andrea Fredriksson-Zederbauer. – Wien: Paul Zsolnay Verlag 2021

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